Dass Geschlechteraspekte in der Medizin und Wissenschaft häufig vernachlässigt und Frauen dadurch in ihrer Gesundheit gefährdet werden, ist nichts Neues. Dahinter steht das Phänomen des Gender-Health-Gaps. Ein noch neuer Bereich der Umwelt- und Gesundheitsforschung offenbart nun eine weitere Dimension dieser Gesundheitslücke: Frauen haben ein höheres Risiko, durch ihre Lebensumwelt krank zu werden.
Lärm, Schimmel in der Wohnung und ein Mix aus hunderten verschiedenen Schadstoffen – jeder Mensch ist täglich gesundheitlichen Belastungen durch seine Umwelt ausgesetzt, jedoch nicht in gleichem Maße. Faktoren wie der sozioökonomische Status, Race und Gender bestimmen, wie gesund die Lebensumwelt einer Person ist. Mit dieser ungleichen Verteilung von Umweltbelastungen beschäftigt sich die Umweltgerechtigkeit.
Die Schnittstelle aus Gender- und Umweltgerechtigkeit vereint Fragen zu Geschlechterrollen, Einflussnahme und sexistischer Forschung mit Aspekten des Umwelt- und Gesundheitsschutzes und erlaubt den Blick auf eine gesündere und gerechtere Umwelt.
Umwelt(un)gerechtigkeit: Wer arm ist, lebt häufiger in einer Umwelt, die krank macht
Der Begriff „Environmental Justice“ wurde erstmals in den 1980er-Jahren im Rahmen lokaler Protestbewegungen in den USA eingeführt. Bürgerrechtsgruppen kämpften damals gegen die Erbauung von Giftmülldeponien in Wohngebieten mit hohem Schwarzen Bevölkerungsanteil. Heute wird Umweltgerechtigkeit eher als Konzept verstanden, das auf einen „sozial gerechten Zugang zu einer möglichst gesunden Lebensumwelt“ zielt. In der Stadtplanung bezieht sich dies vor allem auf die sozialräumliche Konzentration von Umweltbelastungen in Städten. Stadtquartiere mit hohem Armutsanteil verfügen meist über wenige Grünflächen bei gleichzeitig hoher Belastung durch Lärm, Luftschadstoffe und Feinstaub.
Ein Aspekt, der im Diskurs der Umweltgerechtigkeit häufig vernachlässigt wird, ist die Lebensumwelt im Innenraum. Dabei verbringen wir im Durchschnitt 90 Prozent unserer Zeit in Innenräumen. Hier lauern viele versteckte Gesundheitsrisiken. Innenraumschadstoffe, sogenannte „Wohngifte“ wie Asbest oder Holzschutzmittel, können aus Bauteilen, Möbeln und Farben austreten. Bei hoher Feuchtigkeit können zudem Schimmelpilze wachsen, die dann Allergien auslösen oder Toxine produzieren können.
Um mehr darüber zu erfahren, wie soziale Faktoren die Wohngesundheit beeinflussen, habe ich Tinola Zörner interviewt. Sie hat sich in ihrem Studium (Biologie, Jura und Stadtökologie) viel mit Fragen der Umweltgerechtigkeit beschäftigt. Heute ist sie Geschäftsführerin in der Lafu GmbH, einem Umweltanalyselabor in Delmenhorst, und hält regelmäßig Vorträge zu umwelt- und gesundheitsbezogenen Themen.
„Es ist erwiesen, dass Menschen mit geringerem sozioökonomischem Status häufiger in schimmel- und schadstoffbelasteten Wohnungen leben.“ (Tinola Zörner)
Die Gründe hierfür seien vielseitig. Unzureichendes Heizen und Lüften aufgrund steigender Energiekosten sowie eine hohe Belegungsdichte aufgrund von Platzmangel fördern Feuchtigkeit und Schimmelwachstum. Häufiger liegen die Ursachen für Schimmel- und Schadstoffproblematiken aber in der Bausubstanz des Gebäudes. Wer arm ist, lebt eher in alten, sanierungsbedürftigen Wohnungen mit geringem Mindestwärmeschutz und vielen schadstoffbelasteten Baustoffen. „Die Wahlmöglichkeit der Wohnsituation ist das eine“, schließt Tinola Zörner, „die Möglichkeit, Abhilfe zu schaffen ist das andere. Menschen mit mehr finanziellen Mitteln können schneller handeln, wenn sie Schadstoffe oder Schimmel haben.“
Schimmel und Geschlecht? Gender in der Wohngesundheit
Soziale Faktoren bestimmen also maßgeblich, welchen gesundheitlichen Belastungen eine Person in ihrem Wohnumfeld ausgesetzt ist. Welche Rolle spielt dabei das Geschlecht?
„Es gibt diesen Zusammenhang zwischen Schimmel und sozialer Lage, der sehr eindeutig ist und bereits in vielen Studien dargestellt wurde. Da Frauen im Vergleich immer noch einen schlechteren Sozialstatus aufweisen, ist auch ihr Risiko höher, Schimmelbelastungen ausgesetzt zu sein“,
erklärt Tinola Zörner. Das Armutsrisiko für Frauen ist seit Jahren anhaltend hoch. 2021 waren 16,5 Prozent der Frauen, aber nur 15,1 Prozent der Männer in Deutschland armutsgefährdet. Alleinerziehende Frauen stellen eine besonders vulnerable Gruppe dar. Sie haben mit die wenigsten Möglichkeiten und leben infolgedessen häufig in Wohnungen mit vielen gesundheitlichen Belastungen.
Ein weiterer wichtiger Faktor ist die Expositionszeit. Nach aktuellen Zahlen des Statistischen Bundesamtes leisten Frauen 44,3 Prozent mehr Care-Arbeit als Männer, fast die Hälfte davon besteht aus klassischer Hausarbeit wie Kochen, Putzen und Waschen. Diese Arbeit ist nicht nur unbezahlt, sondern birgt auch eine Reihe gesundheitlicher Risiken.
„In Bezug auf das Wohnumfeld finde ich sehr relevant, dass Frauen immer noch mehr zuhause sind und dieser Bereich des Privaten ganz anders geregelt ist. Nämlich kaum.“ (Tinola Zörner)
Das Arbeitsschutzgesetz definiert unter anderem Maßnahmen zum Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz wie Grenzwerte für Innenraumschadstoffe. „Im beruflichen Kontext, in dem Männer häufiger vertreten sind, gibt es somit mehr – wenn auch begrenzte – Möglichkeiten, auf den Gesundheitsschutz zu achten oder etwas einzufordern“, folgert Tinola Zörner. Im privaten Wohnumfeld gelten solche Regulationen nicht. Dort treten meist mehr Schadstoffe und Schimmelbelastungen auf, denen Frauen durch ihre längere Zeit zuhause verstärkt ausgesetzt sind.
Frauen im Schadstoffcocktail des Alltags
Neben der Exposition gegenüber Wohngiften und Schimmel entstehen bei der Care Arbeit weitere gesundheitsrelevante Belastungen durch Putz- und Reinigungsmittel. Diese können allergene oder neurotoxische Stoffe sowie eine Reihe von Duft- und Reizstoffen enthalten. Ergänzt wird der Schadstoffmix des Alltags durch eine tägliche Mischung aus über 100 verschiedenen Chemikalien in Kosmetikprodukten, die unter Ausbeutung von Schönheitsidealen gezielt an Frauen vermarktet werden. Es zeichnet sich schnell eine Tendenz ab:
„Frauen sind mit mehr verschiedenen Chemikalien im Alltag umgeben“ (Tinola Zörner).
In der Arbeitswelt weisen viele Sektoren, die einen hohen Frauenanteil haben, auch eine vergleichsweise hohe Nutzung gesundheitsgefährdender Chemikalien auf. So arbeiten in einigen Ländern zu 85 Prozent Frauen auf Feldern mit Pestiziden. Auch in schadstoffreichen Branchen wie der Textilindustrie, dem Reinigungssektor sowie bei Friseur- und Kosmetikdienstleistern sind größtenteils Frauen beschäftigt. Eine Studie der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) verdeutlicht die gesundheitlichen Folgen. Frauen, die in der Reinigung arbeiten, erkranken fünf Mal häufiger an Gebärmutterhalskrebs und zeigen oft erhebliche Beeinträchtigungen der Lungenfunktion.
Ob im Wohnumfeld, beim Konsumverhalten oder bei der Arbeit, Geschlechterrollen beeinflussen maßgeblich, welchen Schadstoffen eine Person ausgesetzt ist. Aber auch die biologische Konstitution spielt eine Rolle. Unterschiede beim Stoffwechsel, im Hormonsystem und Körperbau haben einen Einfluss darauf, wie toxische Stoffe auf Körper von Frauen und Männern wirken.
„Das heißt nicht unbedingt, dass alle Schadstoffe stärker auf Frauen wirken“, stellt Tinola Zörner klar, „einige Studien sagen allerdings, dass sich fettliebende Stoffe durch das tendenziell höhere Fettgewebe bei Frauen stärker anreichern können.“ Darüber hinaus gibt es Chemikalien, die insbesondere mit frauenbezogenen Krankheiten in Verbindung stehen. Hier sind vor allem hormonaktive Stoffe (EDCs) zu nennen, die viel in Kosmetika, Weichmachern und Pestiziden vorkommen. Sie erhöhen unter anderem das Risiko für Brustkrebs, Endometriose und Unfruchtbarkeit. Besonders vulnerabel gegenüber Schadstoffen sind Frauen dabei in Phasen wie Schwangerschaften oder in den Wechseljahren. So besteht ein gut erwiesener Zusammenhang zwischen der Arbeit mit Pestiziden und Fehl- oder Frühgeburten sowie Geburtsfehlern.
Großer Forschungsbedarf
Trotz einiger Studien, die solche Geschlechterunterschiede in der Schadstoffwirkung abbilden, steht die Forschung noch sehr in den Anfängen. Insbesondere die Kombinationswirkung der vielen auf Frauen einwirkenden Chemikalien sowie der Einfluss auf Trans- und Intersexpersonen ist noch nicht ausreichend geklärt. Damit reiht sich die Schadstoffforschung in die bestehende Datenlücke der Geschlechter ein. Denn dass gesundheitsrelevante Forschung vor allem von Männern für Männer gemacht ist und Geschlechteraspekte in der Folge meist ignoriert werden, ist kein neues Phänomen. So ist es fast nicht überraschend, dass auch in der männlich dominierten Chemieindustrie weiter Chemikalien auf den Markt gebracht werden, ohne dass ihre spezifische gesundheitliche Wirkung auf Frauen, Trans- und Intersexpersonen bekannt ist. „Auch darum geht es in der Umweltgerechtigkeit. Wer ist betroffen und wer kann mitentscheiden?“, erklärt Tinola Zörner.
„Grundsätzlich sollten Produkte der chemischen Industrie nur auf den Markt gebracht werden, wenn bewiesen ist, dass sie für Menschen aller Geschlechter und die Umwelt unschädlich sind.“ (Tinola Zörner)
Ausblick: Eine (gender-)gerechte Umwelt?
Die Chemieproduktion soll sich bis 2030 verdoppeln. Gleichzeitig nehmen Schimmel- und Schadstoffproblematiken durch den Klimawandel zu. Fragen der Umweltgerechtigkeit werden somit immer relevanter. Wie kann eine gendergerechte Umwelt in Zukunft aussehen?
„Eigentlich muss Geschlecht immer mitgedacht werden“,
sagt Tinola Zörner. Das gilt für die Umwelt- und Gesundheitsforschung, aber auch für Schimmelberatungsstellen und politische Instanzen. Denn klar ist: Geschlecht und Umwelt sind nicht voneinander zu trennen und tatsächliche Umweltgerechtigkeit kann nur mit einer Geschlechterperspektive bestehen.
Paula Busemann
Schreibe einen Kommentar