In der Medienwelt taucht in letzter Zeit immer wieder ein ganz bestimmter Begriff auf: das Narrativ. So nennt beispielsweise der Star Wars Erfinder George Lucas sein für den Standort Los Angeles geplantes Museum nicht einfach Museum of Art, sondern Museum of Narrative Art .
In der Welt der Politik werden immer wieder Stimmen laut, die ein neues Narrativ für Europa fordern. Sei es die des ehemaligen EU-Kommissars Franz Fischler oder die der österreichischen Schauspielerin Katharina Stemberger. Wie im Artikel des Standard zu lesen ist, fügt der österreichische Bundespräsident Alexander Van der Bellen dem häufig verwendeten Begriff eine Bedeutung hinzu, wenn er sagt „Wir brauchen hier ein neues Narrativ, eine neue Erzählung über den Sinn“ der Europäischen Union.
Doch, dass Uneinigkeit und Verwirrung über den Begriff herrscht, zeigt sich immer wieder anhand der Print- und Onlinemedien, welche sich auf die Spuren- und Bedeutungssuche des Begriffes Narrativ begeben.
Spurensuche
Tatsächlich ist der Begriff Narrativ im Duden nur unter dem Adjektiv narrativ für „erzählend“, „in erzählender Form darstellend“ zu finden. Seinen Ursprung hat das Narrativ im 1979 erschienenen Werk Das postmoderne Wissen. Der französische Philosoph Jean-François Lyotard verwendet dort den Begriff des Narrativs für Metanarrative oder auch Meistererzählungen, die Gesellschaften tradieren, um bestimmte Ereignisse in der Vergangenheit und Ziele in der Zukunft zu legitimieren. Es handelt sich dabei um Geschichten, die zuvor ungeordnete und zusammenhanglose Ereignisse ordnen, in einen Zusammenhang bringen und die bestimmte Vorkommnisse betonen und andere auslassen. Dadurch entsteht eine sinnstiftende, vereinfachte Erzählung. Im kritischsten Fall hat diese nur noch wenig mit der Realität zu tun, sorgt für eine verklärte Sicht der Dinge und führt zur Marginalisierung von Individuen.
Das Narrativ als politisches Instrument
Oberstes Ziel von Gesellschaften und Nationen ist es, das Individuum dazu zu bewegen, solidarisch hinter dem Staat zu stehen. Nur eine gefestigte Gemeinschaft kann ihre Ziele erreichen. Um diese Solidarität und Gemeinschaft zu erschaffen, bedienen sich beispielsweise Nationen und Gesellschaften bestimmter Narrative. Nun ist es so, dass diese konstruierten Geschichten nicht einfach nur tradiert werden, sondern dazu führen können, dass Identitäten gebildet und ein starrer Diskurs geführt wird. Da diese Identitäten und Diskurse auf Fiktion und Vereinfachungen beruhen, besteht immer die Möglichkeit, dass ihre Konstruktion und Unvollständigkeit bemerkt wird. Mit dieser drohenden Aufdeckung des instabilen Fundaments, auf denen die Identitäten und Diskurse aufgebaut sind, lässt sich die Vehemenz erklären mit der diese Konstrukte verteidigt werden.
Irland das Mutterland
Irland kann als Beispiel für eine solch statische Gender-Identität genannt werden, die auf ein bestimmtes Narrativ zurückgeht. Nach der Unabhängigkeit der 26 von 32 irischen Grafschaften vom Vereinigten Königreich England, benötigte der irische Freistaat eine neue nationale Identität. Eine Identität, die auf der einen Seite Gemeinschaft erzeugt und auf der anderen die Souveränität des Staates legitimiert.
Diese Identität haben die politischen Führer in dem Narrativ des keltischen, reinen und vor allem katholischen Volkes gefunden. Damit diese konstruierte Identität implementiert wird, wurde Irland zum Mutterland und die Frau zur (Allein-)Trägerin der nationalen Identität. Gemessen an der Ikonographie der heiligen Jungfrau Maria, ist die irische Frau zur Hausfrau und Mutter geworden, die für die Wahrung der sittlichen Moral zuständig ist. Eine Abkehr von diesen Gendernormen bedeutete nicht nur der Widerspruch des Narrativ Irlands, sondern die Gefährdung des gesamten Staates. Die Folgen aus dieser nationalen Identität, die auf das Narrativ der reinen Ehefrau und Mutter aufgebaut wurde, sehen wir noch heute in der rigiden irischen Vorstellung von sexueller Moral und in Irlands Politik zur Abtreibung.
Das Narrativ von der Frau
Diese Narrative sind aber keinesfalls nur in fremden Gewässern und im Makrokosmos der Nation zu finden. Narrative sind überall. Insbesondere ist es die Frau, die dem Narrativ in vielen, alltäglichen Situationen begegnet:
„Eine gute Mutter bleibt Zuhause und arbeitet nicht“. „Frauen verdienen weniger Geld, da Männer mehr leisten und eine Familie durchzubringen haben“. „Feministinnen sind Männerhasserinnen“. „Frauen, die einen Minirock tragen, haben es nicht anders gewollt“. „Die Abtreibung ist verwerflich und sündhaft“.
Dies sind nur ein paar Beispiele von Narrative, die im Alltag vorherrschen. Zurück gehen diese Diskurse auf patriarchale Gesellschaften, die die Erzählung der passiven, reinen und unterwürfigen Hausfrau und Mutter tradiert haben, um die bevorzugte Stellung des Mannes in Gesellschaft und Familie zu legitimieren. Diese Narrative scheinen mitunter stärker zu werden, je mehr sich die Frau emanzipiert.
Dekonstruktion
Wichtig ist es, in einer Welt von Narrativen den Blick für die Wirklichkeit nicht zu verlieren. Es gilt, kritisch zu sein und statische Konzepte und Diskurse zu hinterfragen. Dem Narrativ, welches rigide Gendernormen postuliert, kann mit Gegendiskursen begegnet werden. Das Mittel zur Freiheit lässt sich demnach einfach zusammenfassen: Trügerische Narrative erkennen, benennen und ändern. Denn alles, was konstruiert ist, kann auch dekonstruiert und rekonstruiert werden. In diesem Sinne: Holt euren imaginären „Zersetzkasten“ raus und dekonstruiert das politische oder gesellschaftliche Luftschloss!
Svenja Steenken
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