Willkommen im neuen Jahr. Die Raclette-Geräte sind noch nicht kalt, die Gänsefamilien trauern noch um ihre gegessenen Verwandten und die Reste warten im Kühlschrank darauf, weggeschmissen zu werden. Doch schon ist uns schlecht bei dem Gedanken daran wie viel wir gegessen haben. Auf Instagram lesen wir über die Neujahrsvorsätze von irgendwelchen Leuten: gesünderer Lebensstil, mehr Sport, weniger Süßigkeiten und weniger Alkohol trinken. Zwischendurch blinken Werbeanzeigen für Kalorienzähler-Apps wie Weightwatchers, Fitnessprogramme, Abnehm-Tees und ‚mindful eating‘-Apps (die natürlich trotzdem jeden Tag dein Gewicht abfragen) auf.
Ich sehe in den Spiegel und fühle mich wie die linke Seite eines Vorher-Nachher-Bildes. Ich habe aufgehört zu rauchen und obwohl ich mich freuen sollte über diesen Schritt Richtung gesünderer Lebensstil, habe ich Angst, deswegen zuzunehmen. Denn irgendwie scheint mir dünn zu sein wichtiger als gesund zu sein. Warum? Es gibt viele Antworten darauf: Dickenfeindlichkeit, ein schlankes Schönheitsideal und Diet Culture sind einige davon. Heute möchte ich euch erklären was Diet Culture, die Kultur der Diäten bedeutet.
Eine Gesellschaft auf Diät
Diet Culture baut auf einer Reihe von Überzeugungen und Praktiken auf, die dünne Körper über alle anderen stellen. Hierbei wird Schlank-Sein mit Gesundheit und Tugendhaftigkeit gleichgesetzt. Wenn eine Person abnimmt, erhöht dies den sozialen Status. Der Charakter der Person wird positiver bewertet und mehr Privilegien werden eröffnet.
Auf dieser Basis entsteht ein problematisches Verhältnis zu Essen. Es wird in gut und schlecht eingeteilt, mit ständig neuen Einträgen in die Spalte “schlecht”. Gestern war die Matcha-Grüntee-Zeremonie noch das Heilmittel für alle meine Probleme, inklusive meiner Depression, heute lerne ich, dass der Aluminiumgehalt mich in ein frühes Grab bringen wird. Diese anhaltende Wachsamkeit, dieses Bewerten von Essgewohnheiten – das schlechte Gewissen und Schämen für bestimmte Essensentscheidungen – Sie zerstören unser intuitives Verhältnis zu Essen. Sie machen etwas kaputt, was eigentlich eine Quelle von Lebensfreude sein könnte.
Zusätzlich bevorzugt Diet Culture vor allem Menschen, die von Natur aus zum Schlank-Sein tendieren, sowie Menschen die Zeit und Geld für eine gesunde Ernährung, Sport, Abnehm-OPs und vieles mehr haben. So wird aus dem Dünn-Sein, auch ein Klassenprivileg.
Darüber hinaus handelt es sich beim Dünn-Sein eben nicht um eine einfache Präferenz. Sondern um einen gesellschaftlichen Imperativ, der unverhältnismäßig stark auf Frauen bezogen wird und deren Nichteinhaltung mit gesellschaftlicher Ächtung bestraft wird. Diese Definition basiert auf der Erklärung von Aubrey Gordon, aus dem Buch “What we don’t talk about when we talb about Fat”, welches absolut lesenswert ist. Wenn ihr lieber hört als lest, hat die Autorin auch einen tollen Podcast.
Auf dieses Trash Fire, einer von Schlankheit bessessenen Kultur, kippt der Kapitalismus natürlich noch ne Ladung Öl. Denn diese toxische Mischung aus Abnehm-Wahn und Dickenfeindlichkeit ist eine Goldgrube. Mit unseren künstlich erzeugten Unsicherheiten wird Profit gemacht werden. Diet Culture existiert auch ohne diese Kapitalisierung, aber erst die Monetarisierung macht es zu dem allgegenwärtigen Aspekt unserer Kultur, welcher es heute ist.
Falls ihr dachtet, das alles wäre schon toxisch genug, lasst mich euch erklären, was unser Schlankheitswahn mit der Sklaverei, White Supremacy und der Abwertung von Schwarzen Körpern zu tun hat.
Schlankheitswahn, Sklaverei und die Abwertung von Schwarzen Körpern
Wenn es um die Willkürlichkeit von Schönheitsidealen geht, wird oft erwähnt, dass früher kurvige, dicke Frauen das Ideal waren. Wir alle kennen die Gemälde von wunderschönen, üppigen Frauen, die im liegenden Akt, während der Renaissance entstanden sind. Doch was ist passiert, wie sind wir an diesen Punkt gekommen?
Zu Beginn des Sklavenhandels, wurden weiße Frauen und Schwarze Frauen beide für ihre Kurven gefeiert. Doch diese implizierte Gleichheit konnte nicht parallel zur kompletten Entmenschlichung durch die Sklaverei existieren.
„Um die Sklaverei zu rechtfertigen, musste die Trennung zwischen Schwarzen und Weißen deutlich gemacht werden. Mit dem Aufkommen von Ideen, die die Überlegenheit der Weißen theoretisieren, wurden Weiße mit Freiheit und Zivilisation assoziiert und Schwarze mit Sklaverei und Wildheit. An diesem Punkt wurden die Schwarzen in den Augen der Europäer*innen »zu dick«. Schwarz-Sein wurde mit Wollust und Zügellosigkeit, mit Essen, Sex, Körperlichkeit assoziiert. Im Gegensatz dazu sahen sich die Weißen als diszipliniert.“ (Strings 2021)
Zusätzlich zu dieser Entwicklung kam durch die Zwangsarbeit der Sklaven Zucker nach Europa. Die Europäer*innen nahmen zu. Dies wurde maßgeblich vom aufsteigenden Protestantismus als Mangel an Disziplin geframed, der durch die rassistische Ideologie nicht in das Bild weißer Europäer*innen passt.
Da Frauen schon immer hauptsächlich durch ihr Aussehen bewertet wurden, wurde diese neue Abneigung gegen Dicksein vor allem auf sie angewandt (das hat sich auch heute noch nicht geändert). Verbreitung fand diese dickenfeindliche und rassistische Ideologie durch kontemporäre Frauenzeitschriften (auch das hat sich nicht geändert bis heute).
Zusammengefasst lässt sich also sagen, dass unsere heutige Diet Culture aus einem gruseligen Mischmasch aus Rassismus, Sexismus und Kapitalismus entstanden ist. In diesem Sinne: riot, don’t diet!
Hat mir dieses Wissen geholfen wegzuhören, wenn am Esstisch wieder über Gewicht und Essgewohnheiten geredet wird? Ein bisschen <3
Falls ihr noch mehr Infos möchtet schaut hier:
- “What we don’t talk about when we talb about Fat” -Aubrey Gordon
- Maintenance Phase – Aubrey Gordon und Michael Hobbes
- “Fearing the Black Body: The Racial Origins of Fat Phobia” – Adèle Cailleteau
- Zum gesundheitlichen Aspekt: „Dangers of Dieting: Why Dieting Can Be Harmful“ – Anna Guerdjikova
- Über den Zusammenhang von Diäten und Essstörungen „Why dieting can lead to an eating disorder“ – Joshua Zimmerman
Maria Slüter
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