Das „Medical Gaslighting“ beschreibt Situationen, in denen Ärzt*innen die Probleme ihrer Patient*innen nicht ernst nehmen und diese sogar abtun. Es können Sätze fallen wie „Das ist nur der Stress“ oder „Ruhen Sie sich einfach ein wenig aus, dann wird das schon wieder“.
„Gaslighting“ als alleinstehender Begriff bezeichnet die von einer Person ausgehende systematische Manipulation einer anderen Person, bis diese den Bezug zur Realität verliert und dem eigenen Bewusstsein nicht mehr traut. Die Bezeichnung geht zurück auf den Film „Gaslight“ von 1944, in dem ein Ehemann seiner Frau einredet, sie sei verrückt. Sie glaubt die Gaslampen im Haus flackern zu sehen, er behauptet, da sei nichts. In einem Artikel von Femna Health wird deutlich, dass „Medical Gaslighting“ eine eigene Art des „Gaslighting“ ist. Es spielt sich im medizinischen Kontext ab. s Hier kann es auch passieren, dass Ärzt*innen den Grund für die Beschwerden schnell in psychischen Krankheiten, Stress oder einer Einbildung sehen.
Erfahrungsberichte über Medical Gaslighting
In Internetforen oder journalistischen Artikeln findet man viele Berichte von Erfahrungen zu Medical Gaslighting. So schreibt ein Patient, der sogar selbst Arzt ist, in der Huffpost einen Artikel darüber, wie seine beiden behandelnden Ärzte ihn in einer lebensbedrohlichen Situation nicht ernst genommen haben. Der Autor erzählt, wie er nach einer Operation Beschwerden hatte und deshalb ins Krankenhaus ging. Dort teilte er seine Vermutungen über den Grund für die akuten Symptome mit dem Arzt. Der Patient schlug sogar eine schnelle Behandlungsmöglichkeit vor, die er in der Situation als Arzt durchführen würde. Die Aussagen wurden von beiden behandelnden Ärzten weder gehört noch ernst genommen. Im Laufe des Tages ging es sogar so weit, dass der Patient kurz davor stand, zu verbluten. Überlebt hat er nur, da ein dritter Arzt in den Fall involviert wurde und sich der Sache angenommen hat.
Auch auf der Internetseite Reddit.com finden sich unzählige Erfahrungsberichte von „Medical Gaslighting“. So beschreibt eine Person, dass sie in der Vergangenheit wegen starker Schmerzen in eine Arztpraxis gegangen ist. Vor Ort hat man ihr allerdings nur Tabletten verschrieben, damit sie sich „entspannen“ könne. Später stellte sich heraus, dass die Schmerzen von Nierensteinen kamen und „Entspannung“ dabei nicht sonderlich hilfreich war.
Eine weitere Reddit.com-Geschichte schrieb eine mittlerweile erwachsene Person, die im Alter von fünfzehn Jahren plötzlich an starken Schmerzen, Übelkeit und Müdigkeit litt. Schnell wurde bei ihr damals eine Essstörung diagnostiziert. Sie erzählt, dass sich die Diagnose von Anfang an nicht richtig angefühlt hatte, doch der 15-jährigen wurde vom ärztlichen Personal sowie der eigenen Mutter unterstellt, wegen ihrer Symptome zu lügen. Jahre später wurde die mittlerweile erwachsene Person unter anderem mit chronischer Migräne und Muskel-Faser-Schmerz sowie eventueller chronischer Müdigkeit diagnostiziert. Eine Essstörung war es wohl nie.
Der Forschungsstand
Die Gründe für Medical Gaslighting sind noch nicht gut erforscht. Jennifer C. H. Sebring unternimmt in einem 2021 erschienenen Essay den Versuch, die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen zu beschreiben, die dazu führen, dass Patient*innen nicht ernst genommen werden: Der Machtunterschied zwischen Ärzt*in und Patient*in ist hier ein wichtiger Punkt. Hinzu kommt, dass die westliche Schulmedizin oft als die Inhaberin der absoluten Wahrheit gilt. Aussagen von Ärzt*innen sind somit auch Teil dieser Wahrheit. Persönliche Empfindungen passen da nicht gut rein. Ärzt*innen sind somit in ihrer Position als Expert*innen in der machtvollen Lage, darüber zu entscheiden, was wahr ist und was falsch. Patient*innen wiederum sitzen am anderen Ende dieses Machtgefälles.
Weitere Infos finden sich in der 2022 veröffentlichten Studie von Larry Au und Kolleg*innen über Medical Gaslighting beim Krankheitsbild Long Covid. Für diese Studie werteten Forscher*innen eine online-Umfrage aus, die von 334 Long Covid-Betroffenen ausgefüllt wurde. Ganze 79 Prozent der Antworten auf Fragen in dieser Umfrage beschreiben negative Interaktionen mit medizinischem Personal. Nur die anderen 21 Prozent beschreiben positive Interaktionen. Die negativen Antworten behandelten hauptsächlich drei Thematiken: Mangelnde Behandlungsmöglichkeiten für Long Covid, besonders lange Dauer bis zu einer Diagnose und, passend zum Thema, das Abtun von Krankheitserfahrungen.
Mythen, Vorurteile und frauenfeindliche Medizin
Besonders schwierig ernst genommen zu werden, kann es für Menschen sein, die Teil einer marginalisierten oder unterrepräsentierten Gruppe sind. So stellen unter anderem der „Gender Health Gap“ oder der „Racial Data Gap“ die Patient*innen vor besonders große Herausforderungen.
Alexandra Zykunov nennt in ihrem 2023 erschienenen Buch Beispiele für Mythen und Vorurteile, die in der Medizin über den weiblichen Körper, People of Color oder Menschen aus der LGBTQIA+ Community herrschen. Sie spricht über die große Wissenslücke zwischen männlichen und weiblichen Körpern aufgrund frauenfeindlicher Medizin. Ein Vorurteil ist beispielsweise die unterschiedliche Schmerztoleranz, die Männern und Frauen angedichtet wird:
„Haben sowohl Patient als auch Patientin ihren Schmerz vorab als gleich stark angegeben und zeigten ihre schmerzverzerrten Gesichter im Video, wurde der Schmerz der weiblichen Patientin im Video von den Proband*innen konsequent niedriger eingestuft.“
Insbesondere auch People of Color wird eine erhöhte Schmerztoleranz zugeschrieben. Studien haben ergeben, dass diese in der Notaufnahme in nur 23 Prozent der Fälle Schmerzmittel erhalten, während weiße Personen in 31 Prozent der Fälle welche erhalten.
„Der Grund, warum Schwarze Menschen und gerade Schwarze Frauen in diesen medizinischen Statistiken so weit unten rangieren, ist, dass Studien zufolge unter medizinischem Personal (!) die Meinung vorherrscht, dass Schwarze Menschen weniger Schmerzen empfinden würden als weiße.“
In solchen Fällen wird das Schmerzempfinden der Patient*innen also strukturell nicht ernst genommen! Es besteht ohnehin ein klares Machtgefälle zwischen Ärzt*in und Patient*in. Wenn dazu noch Vorurteile und irrationale Mythen herrschen, scheint Medical Gaslighting beinahe unvermeidbar. Deshalb ist es dringend notwendig, dass Ärzt*innen für die Machtposition, in der sie stehen, sensibilisiert werden! Zudem müssen Vorurteile abgebaut und gerechtere Forschung durchgeführt werden, damit ein fairer Umgang mit Krankheitserfahrungen in den Arztpraxen gelingen kann.
Was kann ich als Patient*in gegen Medical Gaslighting tun?
Die ersten Schritte, um sich gegen Medical Gaslighting zu schützen, gehen schon vor dem Termin in der Praxis los: Informiert euch über die eigenen Symptome. So fühlt ihr euch im Gespräch mit den Ärzt*innen direkt selbstbewusster. Zudem ist es gut, im Vorfeld bereits ein paar Fragen parat zu haben, die ihr unbedingt stellen wollt! Auf diese Weise gehen keine Informationen im Eifer der kurzen Beratungszeit verloren. Außerdem könnt ihr stets eine befreundete Person zu euren Terminen mitnehmen, wenn ihr euch damit wohler fühlt. So seid ihr nicht allein dem Urteil der Ärzt*innen ausgeliefert. Um eine bessere Gesprächsgrundlage zu haben, kann es zudem sinnvoll sein, ein Symptomtagebuch zu führen.
Wenn ihr euch nach oder während der Behandlung dennoch nicht gut aufgehoben fühlt, holt euch zusätzlich die Meinung anderer Ärzt*innen ein. Stimmen von weiteren Expert*innen können helfen, die gesamte Situation besser einzuschätzen.
So oder so gilt: Vertraut auf euer Gefühl! Ihr fühlt die Schmerzen und ihr kennt euren Körper am besten!
Greta Petersen
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