Heute möchte ich euch einen weiteren Aspekt von Care-Arbeit vorstellen: Dirty Care oder Negative Care. Schmutzige Sorgearbeit bezeichnet hier nicht die schlecht bezahlten Arbeitsfelder, in denen sich zum größten Teil migrantisierte FLINTA* die Hände wortwörtlich schmutzig machen. Stattdessen beschreibt der Begriff Dirty Care einen Aspekt von Care-Arbeit oder Sorgearbeit, der von FLINTA* und BiPoC geleistet werden muss, um in unserer Gesellschaft sicher zu sein.
Der Begriff wurde von der französischen Philosophin Elsa Dorlin in ihrem Buch „Selbstverteidigung: Eine Philosophie der Gewalt“ (2020) geprägt. Dirty Care ist eine Erweiterung des Care-Arbeit-Begriffes, den wir euch hier genauer erklärt haben. Care-Arbeit geschieht oft aus einer emotionalen Nähe, als liebevolle Fürsorge, Aufopferung oder auch aus einem Verpflichtungsgefühl heraus. Die Freiwilligkeit kann und sollte hier hinterfragt werden, da unsere Gesellschaft weiblich gelesene Menschen durch ihre Sozialisation darauf vorbereitet und dahingehend beeinflusst.
Dirty Care entsteht aus Gewalt
Schmutzige Sorge entspringt nicht dieser dubiosen Freiwilligkeit. Sie entsteht aus Gewalt. Es muss nicht einmal Gewalt sein, die am eigenen Körper erfahren wird. So kann es auch ein generationsübergreifendes Trauma sein. Für Frauen sind es die alltäglichen Erfahrungen des Patriarchats, die Dirty Care nötig machen: Die Erfahrung der Herabsetzung, der Gewalt und der Gewalt, die wir an Körpern, die aussehen wie unsere, von klein auf miterleben müssen. Für BiPoC sind es die Erfahrungen von Rassismus und der damit einhergehenden physischen und psychischen Gewalt. Auch hier gilt, dass diese nicht unbedingt am eigenen Körper erfahren werden muss. Schmutzige Sorge entsteht auch, wenn miterlebt wird wie Menschen die aussehen wie sie, behandelt werden. Ob im echten Leben oder in den Medien. Für trans Menschen, dicke Menschen und andere marginalisierte Gruppen gilt dies genauso.
Eine Strategie der Selbstverteidigung
Aber zurück zum Anfang: Was ist Dirty Care oder Schmutzige Sorge? Dirty Care ist auf gewisse Art eine Strategie der Selbstverteidigung.
Bevor ich zu den Beispielen komme, ist hier wichtig, dass ich aus einer weiblichen und weißen Perspektive schreibe, somit nur hier aus der eigenen Erfahrung berichten kann. Für die Erfahrungen von BiPoC, trans, … Menschen kann ich nicht sprechen und werde somit näher an der Theorie bleiben.
Die Arbeit, die Menschen, die nicht der dominanten Gruppe angehören (BiPoC, trans Menschen, queere Menschen, Frauen,…), in unserer Gesellschaft leisten, um sicher leben zu können, ist Schmutzige Sorge. Sie ist die Überlegung, welcher Weg für mich im Dunkeln am sichersten ist, die Abwägung zwischen „mitten durchs Viertel laufen“ (viele Menschen = viele potentielle Täter) oder durch die kleineren Nebensträßchen (kaum Menschen = kaum potentielle Täter, aber auch kaum Zeug*innen). Wenn ich meine Outfits zusammenstelle, versetze ich mich in den Kopf eines übergriffigen Typen und überlege, ob mein weiter Ausschnitt als Einladung gelesen werden könnte.
Das sind Beispiele, für die ich noch nicht einmal das Haus verlassen habe. Außerhalb meines Wohnraumes ist das erste Beispiel, welches mir aus meiner eigenen Erfahrungswelt als weiße Frau einfällt, Belästigung auf der Straße.
Sicherheit oder Macker und Rassisten boxen?
Die meisten Frauen wurden schon gecatcalled: Wie würdet ihr am liebsten darauf reagieren? Ich würde am liebsten wütend werden und sagen, wie erbärmlich ich das finde. Aber ich denke immer ihre Reaktion mit, ich bleibe nett, damit er nicht wütend wird und mir gefährlich. Migrantisierte Menschen, sichtbar trans oder queere Menschen müssen ebenso abwägen: die angemessen wütende Reaktion auf die Erfahrung von Belästigung oder Diskriminierung gegen die eigene Sicherheit.
„Hier geht es nicht mehr darum, ‚sich um andere zu kümmern‘, um etwas zu tun, das ihnen hilft, sie versorgt, tröstet, beruhigt, ihnen das Gefühl von Sicherheit gibt, sondern darum, sich um andere zu kümmern, um vorauszusehen, was sie mit uns tun wollen, werden oder können – etwas, das uns potentiell entwertet, ermüdet, beleidigt, isoliert, verletzt, beunruhigt, negiert, Angst macht, derealisiert.“ – Elsa Dorlin (S.222)
Diese Situationen sind davon geprägt, unbewusst ständig eine Fremdwahrnehmung auf uns selber einzunehmen. Wenn ich alleine bin mit mir nicht vertrauten männlich gelesenen Personen, achte ich sehr genau darauf, wie sie mein Verhalten interpretieren könnten. Nicht weil ich möchte, dass ich ihnen gefalle, sondern weil ich unbewusst vermeide, sie zurückweisen zu müssen oder dies nicht hinzubekommen. Dabei verliere ich meine eigene Perspektive aus dem Blick, weil ich mir ihrer Perspektive für meine Sicherheit bewusster sein muss.
Der cis männliche weiße Blick
Dorlin nennt zwei Grundbestandteile von Dirty Care. Der erste kann als Aufmerksamkeit bezeichnet werden. Diese ist erforderlich, um sich in das Gegenüber hineinzuversetzen, um dessen Absichten und Sichtweisen zum Zweck des Selbstschutzes vorauszusehen. Dazu ist ein umfangreiches Wissen über die dominante Gruppe nötig. Die Aufmerksamkeit, die Wachsamkeit und das ständige Priorisieren einer fremden Perspektive ist Arbeit. Anders als andere Formen von Care-Arbeit ist diese Sorge um das Gegenüber, für die eigene Sicherheit ein Zwang, dessen Unterlassung gefährlich sein kann.
Der zweite Bestandteil von schmutziger Sorge bezieht sich auf die dominante Gruppe. Dorlin erklärt, dass Machtpositionen Unwissenheit erzeugen. Die Priorisierung der Sichtweise der dominanten Gruppe – in unserer Gesellschaft also der Sichtweise von weißen cis und hetero Männern – macht diese zur „realen“ oder „objektiven“ Position. Die dominante Gruppe ist somit unwissend über die Auswirkungen ihrer für sie unsichtbaren Privilegien auf die nicht dominante Gruppe. Dies bewahrt sie nicht nur davor, diese zu sehen und sich um sie zu sorgen, sondern gibt ihnen auch Zeit „für sich selbst“. Sie begreifen sich als das „ausschließliche Objekt der Aufmerksamkeit und Sorge“ (S.225). Eine Gruppe, die diese Sichtweise und die dazugehörigen Privilegien hat, wird die Zeit, die sie gewinnt, zur Stabilisierung und zum Ausbau einer Gesellschaftsordnung nutzen, in der diese dominante Gruppe die Macht behält.
Die Aufrechterhaltung von Macht
Auch die Interaktion mit der nicht dominanten Gruppe schafft es oft nicht, die Unsichtbarkeit und Unwissenheit aufzulösen. Aus dem Grund, dass die nicht dominante Gruppe sich eben aus Selbstschutz anpassen muss. Sie die Sichtweise der dominanten Gruppe übernehmen muss oder einfach nicht die Sicherheit hat, zu widersprechen und sich zu wehren. So wird es für die dominante Gruppe eben kein gleichgestelltes Gegenüber mit einer eigenen Erfahrungswelt und Position geben, sondern nur Objekte in der eigenen Erfahrungswelt, die es zu erobern, dominieren oder zu vernichten gilt.
Dorlin schafft also mit ihrem Schmutzige Sorge-Begriff eine Erweiterung des Konzepts Care-Arbeit. Es ist die Sorge und die Aufmerksamkeit, die der dominanten Gruppe erzwungenermaßen zukommt. Die „Anstrengungen […], die man trotz allem unternommen hat, um sich zu verteidigen.“ (S.224)
Sicheres Leben in unserer Gesellschaft ist Arbeit
Ich hoffe, ich habe euch mit dieser sehr theoretischen Erklärung nicht verloren. Dorlins Konzept basiert hier eben auf philosophischer Theorie der Macht, ist also überspitzt dargestellt und nicht hundertprozentig auf unsere Gesellschaft übertragbar. Trotzdem finde ich ihr Modell von Dirty Care oder Schmutziger Sorge hilfreich, um Dynamiken in einer ungleichen Gesellschaft zu verstehen – vor allem, um die Erfahrungen und Alltagsbelastungen von FLINTA* und BiPoC zu verstehen.
Der Begriff benennt den Aspekt von (Care-)Arbeit, der aufgebracht werden muss, um in unserer patriarchalen und rassistischen Gesellschaft möglichst sicher zu leben. Denn die Kapazitäten, die ich und andere FLINTA* oder BiPoC dafür aufbringen müssen, sind Arbeit und sind definitiv nicht fair.
Zu guter Letzt möchte ich euch das Buch „Selbstverteidigung – Eine Philosophie der Gewalt“ von Elsa Dorlin empfehlen.
Maria Slüter
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