1981 rief die Journalistin Ellen Willis den Begriff pro-sex-feminism oder – einfach übersetzt – sexpositiver Feminismus ins Leben. Sexpositiv hört sich erstmal einfach und selbsterklärend an: Sex und all das, was damit in Zusammenhang gebracht werden kann, wird positiv konnotiert. Oder? Dass Sexpositivismus viel mehr in die Tiefe geht und gar nicht unbedingt etwas mit dem Akt per se – sondern eher mit dem gesamten Drumherum – zu tun hat, habe auch ich erst bei meiner Recherche feststellen dürfen.
Sexpositiv? Eine Begriffserklärung
Die sexpositive Bewegung setzt sich aus Merkmalen unterschiedlichster Bereiche zusammen, die alle nach ein und demselben Ziel streben: sexuelle Freiheit für alle.
Um diese sexuelle Freiheit ausleben zu können,…
… muss jede Person einen Zugang zu Informationen rund um Sexualität haben
… bedarf es einvernehmlichem Sex beider/aller Parteien
… darf jede Person die Sexpraktiken ausleben, die Person für sich als richtig betrachtet
… bedarf es keinen Bewertungen oder Einschränkungen von außen
Vor allem die Frauenbewegung der 70er und 80er Jahren machte sich dieses Streben nach sexueller Freiheit zu Nutze. Ellen Willis sprach davon, dass „die männlich dominierte Gegenkultur Freiheit für Frauen vor allem in sexuellen Begrifflichkeiten [definierte]. […] Das hatte zur Folge, dass Frauen der Idee der sexuellen Befreiung immensen symbolischen Stellenwert zuschrieben.“
Die sexpositive Bewegung und ihre Entstehungsgeschichte
Die Frauenbewegung der 1970er Jahre kämpfte für freie und liberale Sexualität. Die Gesellschaft befand sich in einem patriarchalen und kapitalistischen System, dem unterstellt wurde, mit seinen Konsummedien bestimmte Muster des Sexualverhaltens zu verbreiten. Darunter fiel auch die klischeebesetzte Pornoindustrie mit klassischer Rollenverteilung.
Die stereotypisierten Geschlechterrollen der 70er Jahre haben ihren Ursprung in den 50er Jahren. Das Ehe- und Familienrecht benannte den Mann als Alleinherrscher über seine Frau und Kinder. Die Frau musste jederzeit sexuell zur Verfügung stehen, sexuelle Übergriffe in der Partnerschaft galten als Privatsache. Das Rollenverständnis zur damaligen Zeit war deutlich mit dem allgemeinen Machtverhältnis zwischen Mann und Frau verknüpft. Der Soziobiologe Johan van der Dennen sieht zwischen Macht und Sex eine eindeutige Verbindung. Macht setze eine gewisse Risikobereitschaft voraus, auf psychologischer Ebene wirke es sogar wie eine Art Aphrodisiakum. Van Dennen: „Macht geht einher mit Reichtum, Berühmtheit, Erfolg und mit sexuellem Zugang zu zahlreicheren und vielseitigeren Partnern. Das Einzige, was wirklich nötig ist, damit einer sich mächtig fühlt, ist die Unterwürfigkeit des anderen.“ Die Pornoindustrie der 70er Jahre spiegelte mit ihren klischeebesetzten Filmen eben jenes Machtgefälle wider, welches zur damaligen Zeit im privaten Raum zum Alltag gehörte.
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Ab 1979 entstanden kleinere Gruppen innerhalb der Bewegung, die sich gegen diese unterdrückende Darstellung von Frauen einsetzten. In ihrem Blickfeld waren schon lange nicht mehr nur die unterdrückenden Mainstreampornos, sondern auch Bereiche der Prostitution. Die Bewegung wuchs und bekam nach und nach Zuspruch von verschiedensten Personengruppen. Die Forderung, Sexualität solle sich und die damalige Gesellschaft verändern, wurde laut. Die Frauengesundheitsbewegung sorgte letztendlich dafür, dass Wissenslücken rund um die weibliche Sexualität und den weiblichen Körper langsam aber sicher geschlossen wurden.
Sexueller Genuss als „Kapital“?
Was damals aus der Frauenbewegung entstand, gilt heute selbstverständlich für jegliche Geschlechtsidentitäten und sexuelle Orientierungen. Sexuelle Freiheit soll und darf jede Person nach dem jeweiligen Gusto zelebrieren, solange Andere davon keinen Schaden nehmen.
Sexuelle Freiheit ist demnach per se erstmal positiv zu bewerten. Trotzdem werden heutzutage Stimmen laut, die den sexpositiven Feminismus, der einst für einen gesellschaftlichen Aufschrei sorgte, kritisch betrachten.
Es wird problematisiert, dass in manchen linkspolitischen Kreisen die Grundlagen des sexpositiven Feminismus falsch ausgelegt werden. Sexpositivismus, mit dem Fokus auf FLINTA*-Personen, kann als eine Art „sexuelles Kapital“ verstanden werden. Damit ist vereinfacht gemeint, dass FLINTA*-Personen, die mit vielen Partner*innen Sex haben, sich „am stärksten an den Feminismus halten“. Sie trotzen sozusagen dem patriarchalen System mit ihren ungezwungenen Sex-Dates und zeigen der Gesellschaft mit erhobenen Fäusten, wie frei und selbstbestimmt sie sein können.
Sexuelle Freiheit und ihr deutliches Ausleben wird sozusagen als ein Must-Have-Kriterium des „echten Feminismus“ gesehen. Wer als FLINTA*-Person vorweisen kann mit vielen weiteren Personen sexuell aktiv geworden zu sein – und dass ohne jegliche romantische Gefühle aufzubauen – kriegt schnell einen positiven Moralstempel aufgedrückt und gilt als stark, selbstbewusst und emanzipiert.
Erwähnenswert an dieser Stelle ist, dass eine solche Eingrenzung (oder in dem Falle Ausgrenzung) nicht den ursprünglichen Grundsätzen der sexpositiven Bewegung entspricht und auch nicht dafür Sorge trägt, dass jede Person sexuelle Freiheiten auf individuelle Weise genießen kann.
Bewertungen von außen? Nein danke.
Wenn ihr mich fragt, sind Bewertungen von außen in keinem Kontext gut, vor allem nicht in jenen, die nur uns alleine und unseren Körper betreffen. Schließlich ist die einzige Person, die unsere Bedürfnisse kennt, wir selbst. Sexuelle Freiheit sollte demnach nie ein Kapital darstellen, geschweige denn einen Konkurrenzkampf hervorrufen, in dem eine Person als „besser“ und „emanzipierter“ gilt, als eine andere. Sämtliche Notizen im Handy, die eine Liste von den in der Vergangenheit verführten Personen beinhalten, können somit getrost entsorgt werden, denn: Die Häufigkeit des sexuellen Genusses ist kein Bewertungskriterium in gut oder schlecht und sagt nichts über euren Wert als Mensch aus!
Die ursprünglichen Grundsätze des sexpositiven Feminismus haben sicherlich dazu beigetragen, dass wir heute ein Stückchen weiter sind, als noch vor einigen Jahrzehnten. Sex wird immer gesellschaftstauglicher und ist häufiger ein Thema, welches viele zu interessieren scheint. Ich denke allerdings, dass wir aufhören müssen, Sex – egal, ob ausgelebt oder nicht – als etwas anzusehen, womit sich Personen profilieren oder von Anderen abzuheben versuchen.
Sexpositiv feministisch zu sein bedeutet für mich nicht, quantitativ auf sexuelle Höchstleistungen hinzuarbeiten. Es bedeutet für mich auch nicht, nur FLINTA* – Personen tollen und genossenen Sex zu gönnen. Sex soll schön, selbstbestimmt, einvernehmlich und individuell sein. Ob überhaupt, wie oft, mit wem, wo oder mithilfe welcher Praktik man den Sex genießt, bleibt den involvierten Personen überlassen und sollte niemals Gegenstand einer außenstehenden, gesellschaftlichen Debatte sein.
Mehr Informationen über Gleichberechtigung beim Sex findet ihr zusätzlich in unserem Artikel „Gleichberechtigter Sex – wir kommen!„. Lest euch dort unbedingt schlau, wenn es euch interessiert!
Nina Boekamp
Julia meint
Du schreibst: „Die Frauenbewegung der 1970er Jahre kämpfte für freie und liberale Sexualität.“
Dazu muss ich sagen, dass die 68.-Bewegung erst ein Mal die sexuelle Befreiung forderte: aber nur für Männer.
Falls eine Frau nicht einverstanden war, war sie entweder „reaktionär“ oder „frigide“. Eine „befreite“ Frau hatte Flugblätter zu tippen, zu kochen und eben ständig zur Verfügung zu stehen.
Auf diesem Boden entstand die zweite Frauenbewegung ab 69 so ziemlich als Verweigerungskampagne – die sexuelle Befreiung für Frauen kam eben später. 😊 💜