Triggerwarnung: Sexismus, versuchte Vergewaltigung, Mobbing, Bodyshaming, Essstörung
Im Roman „Wie Die Gorillas“ von Esther Becker, erschienen im Februar 2021 und herausgegeben vom Verbrecher Verlag, porträtiert die Autorin das Erwachsenwerden von drei jungen Frauen. Die Illusion, dass alle Menschen selbst über ihre Körper entscheiden können zerbricht am gesellschaftlichen Zwang dazugehören zu wollen und sich somit in die Kategorien „sportlich, weiblich und schlank“ unterzuordnen. Unbeschönigt, aber dennoch humorvoll beschreibt Becker den patriarchalen und selbstoptimierenden Druck des vermeintlich „perfekten“ körperlichen Aussehens und „optimalen“ charakterlichen Verhaltens, welcher in einer Leistungsgesellschaft auf jungen Frauen lastet.
Verschlüsse sind hochzuziehen, die Röcke hinunter (…) nicht zu züchtig, aber anständig genug
Mit der prägnanten Frage „Was machst du, wenn deine Kinder Frauen werden? Wenn deine Kinder Töchter sind und Frauen werden, was machst du dann?“ taucht Becker in das Leben von Svenja, Olga und der Hauptprotagonistin (ihr Name wird im gesamten Roman nicht erwähnt) ein.
Angemessen und anständig sollen junge Frauen sein, aber bitte keine Spaßverderberinnen und Mauerblümchen. Schön, attraktiv und schlank sollen sie sein, aber bitte nicht zu freizügig dabei. Was würden sonst die Nachbar*innen oder potenzielle Verehrer denken?! Ein gutes Ansehen sollen sie haben, vorsichtig sollen sie sein. Bei sexueller Belästigung sollen sie bloß nicht wütend oder emotional werden, sondern sie lieber gekonnt ignorieren. Sie sollen sich einfach beherrschen, das kann doch alles nicht so schwer sein?! Früher oder später müssen sie sich daran gewöhnen…
Beckers Worte erzählen eine realitätsnahe sowie greifbare Geschichte, in welcher der weibliche Körper zur Angriffsfläche deklariert wird. Ihre Worte offenbaren den Schauplatz eines Schlachtfelds, welcher auf den Rücken von (jungen) Frauen(körpern) ausgetragen wird. Ein beständiges Gefühl der Ohnmacht sowie der Machtlosigkeit entfaltet sich beim Lesen der geschriebenen Zeilen Beckers. Die Autorin illustriert auf eine unbequeme und ehrliche Weise, dass junge Frauen in einer westlich geprägten Welt voller vermeintlichen und millionen von Möglichkeiten selbst zu Entscheiden, doch nicht so frei sind wie es zunächst scheint.
…weil ich hässlich bin
Bereits beim Lesen der ersten Seiten wird deutlich, dass die Hauptprotagonistin eins sehr selbstkritisches Verhältnis zu sich und ihrem Körper hat. Sie denkt, dass sie hässlich sei. Dieser beständige Gedanke treibt sie zu gewissen (Nicht-)Handlungen, z.B. bei ihrer Kurzsichtigkeit „Ich werde eine Brille verschrieben bekommen, die ich nie tragen werden, weil sie hässlich ist und ich hässlich bin“ oder sie vermeidet es bewusst zu lachen „Ich lache ungern, ich habe Zähne wie Pferde“ .
Normalfall
Wie ein roter Faden durchzieht sich dieses negative Bild vom eigenen Körper durch den Roman und bestimmt das gesamte Leben der jungen Hauptprotagonistin. Für ihre Mutter und ihre Frauenärztin scheint es selbstverständlich beim Thema Verhütung, auf die sogenannte „vernünftige Verhütung“ zu setzen. Ohne Absprache mit der Hauptprotagonistin und obwohl sie die Pille nicht verträgt, wird es weiterhin damit versucht. Einfach eine andere ausprobieren, so lautet der Rat der Frauenärztin. Die damit einhergehenden Risiken werden nicht ansatzweise erwähnt. Die Pille vertragen zu können ist für die Hauptprotagonistin ein Zeichen zur Gesellschaft dazuzugehören „Die Ärztin fand das ungewöhnlich: Im Normalfall wird die Haut besser. Das sagte sie fast vorwurfsvoll, als würde ich mit Absicht aus der Reihe tanzen, als würde ich nicht allzu gern ein Normalfall sein“.
„Man muss bei allem so tun, als wäre es von Natur aus so“
Das ständige Bedürfnis abnehmen zu wollen wird von der Gesellschaft als eine „normale“ sowie legitime Körperoptimierung reklamiert. Dieser Druck drängt die Hauptprotagonistin in die Arme einer Essstörung, welche auch nach ihrer Schulzeit ihre konstante Begleiterin bleibt.
Meine Eltern wissen nichts, ich erzähle ihnen nichts, sie fragen auch nichts
Eine elterliche sowie verständnisvolle Fürsorge, welche liebevoll auf die Bedürfnisse der Mädchen eingeht, bleibt Olga und der Hauptprotagonistin verwehrt. Unterstützung erfährt die Hauptprotagonistin von ihrer Mutter lediglich, wenn es darum geht Gewicht zu verlieren und der gesellschaftlichen Norm einer anständigen jungen Frau zu entsprechen. Die Hauptprotagonistin geht davon aus, für ihre Eltern eine Belästigung zu sein. Olgas Eltern sind streng religiös und versuchen ihr das Medizinstudium zu verbieten. Unter den strengen Blicken ihrer Eltern wird Olga regelrecht kontrolliert und überwacht. Wohingegen sich Svenjas Eltern anders verhalten. Zwar erfährt sie sehr viel Zuspruch von ihnen, allerdings stört Svenja gerade dieses Verhalten. Sie hat das Gefühl von ihren Eltern kein konstruktives Feedback zu ihren Leistungen zu bekommen, da sie übertreiben würden und alles was sie macht wirklich hervorragend finden. Das macht sie misstrauisch. Sie sehnt sich nach strengeren Regeln.
Ich schwieg
Aufgrund des schlechten Verhältnisses zu ihren Eltern erzählt die Hauptprotagonistin ihnen auch nichts davon, als sie auf ihrem abendlichen Heimweg nur knapp einer versuchten Vergewaltigung entkam. Sie hatte Angst, ihre Eltern würden sich Sorgen machen und weil sie auch sonst nichts erzählen würde, schwieg sie „Jetzt trage ich meinen Schlüsselbund wie einen Schlagring“. Svenja muss am Theater oben ohne mit nacktem Busen spielen. Später wird ein Video des Theaterstücks ohne ihr Wissen und ihre Zustimmung vom Regisseur veröffentlicht, was sie nur durch einen Zufall mitbekommt. Von einer Anzeige sieht sie jedoch ab.
Die-was-soll-nur-aus-mir-werden-Frage
Der unablässige Druck Erwartungen zu erfüllen, am Besten sofort nach der Schulzeit, nein besser noch während der Schulzeit unmittelbar zu wissen, was man studieren möchte, welche Ausbildung man anfangen möchte oder welche anderen beruflichen Zielen man erreichen möchte, wirkt sich auch auf die Hauptprotagonistin aus. Zusätzlich führt der immerwährende Vergleich mit anderen im ähnlichen Alter, die scheinbar alle schon genau wissen wie sie ihr Leben gestalten wollen dazu, dass die Hauptprotagonistin sich immer mehr isoliert. Eine zunehmende und sich steigernde Einsamkeit breitet sich in ihr aus. Orientierungslos schreibt sie sich in den Studiengang Medienwissenschaft ein. Der Kontakt zu Svenja, Olga und ihren Eltern wird immer seltener und (noch) brüchiger.
„Ich bin kein Student, sondern eine Studentin“
Unmissverständlich beschreibt Becker die elterliche Romantisierung des Student*innenlebens sowie die Missachtung des Genderns. Die Hauptprotagonistin empfindet ihre Kommiliton*innen an der Kunsthochschule als arrogant und elitär „als könne man froh sein, dass sie überhaupt auftauchen, wenn sie verspätet und verkatert in den Unterricht schlurfen. Es werden mehr Rauchpausen gemacht als auf dem Bau, Individualität wird hier ganz groß geschrieben“. Bei solchen Menschen hat sie keinen Bedarf danach sich mit ihnen anzufreunden geschweige denn Anschluss zu finden.
Spätvorstellung
Nach einem Kinobesuch in einer Spätvorstellung wird die Hauptprotagonistin vom Kinopersonal vergessen. Die Türen des Saals sind verschlossen. Niemand hört sie schreien, niemand nimmt ab, als sie verzweifelt versucht ihren Vater, Svenja und Olga mit dem Handy zu erreichen. Unter Tränen ruft sie schließlich ihre Mutter an und schildert ihr ihre angsteinflößende Situation. Ihre Mutter schafft es, sie zu befreien. Zusammen gehen sie in die Wohnung der Hauptprotagonistin, welche sich in einem Zustand der Verwahrlosung befindet. Auch der Vater stößt dazu und so räumen und putzen alle zu dritt die Wohnung. Am Ende der Aufräumaktion überreicht die Mutter der Hauptprotagonistin einen Zettel mit dem Namen und Telefonnummer eines Doktors. Im letzten Kapitel demonstriert die Autorin des Romans eine Szene, in welcher Svenja die Fragen in die Kamera stellt, hinter welcher die Hauptprotagonistin steht:
„Was machst du, wenn deine Kinder Frauen werden? Wenn deine Kinder Töchter sind und Frauen werden? Was machst du dann?“
„Wie Die Gorllias“ berührt schonungslos und schmerzhaft den Alltag (heranwachsender) Frauen. Gewiss finden sich zahlreiche Leser*innen in ähnlichen Situationen wie der von Svenja, Olga und der Hauptprotagonistin wieder. Dieser Aspekt ist nur einer von vielen, warum der Roman einen Platz in Deinem Bücherregal bekommen sollte.
Sabine
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