Welchen Einfluss hat es auf die Politikwissenschaft und auf die Politik selbst, dass (fast) nur Männer Politik beschreiben und betreiben? Die Effekte gehen über die Politikwissenschaft selbst hinaus bis hin zum politischen Umgang mit Konflikten.
Die Politikwissenschaftlerin J. Ann Tickner verfasst 1995 den Artikel Hans Morgenthau’s Principles of Political Realism: a Feminist Reformulation. Damit liefert sie einen feministischen Blick auf eine der einflussreichsten politikwissenschaftlichen Theorien: Hans Morgenthau’s Realismus.
Besonderen Bezug nimmt sie auf seine sechs Prinzipien des Realismus.
Morgenthau’s Realismus
Laut Morgenthau agierten Nationalstaaten immer egoistisch, das oberste Ziel sei der Erhalt und die Gewinnung von Macht. Unter Macht versteht der Realismus die Herrschaft über andere Menschen.
Nach der Theorie des Realismus befindet sich die Welt in einem konstanten Kriegszustand, der nur phasenweise unterbrochen wird.
Indem egoistischer Machterhalt als das einzige Interesse von Staaten verstanden wird, wird Sicherheit nach Morgenthau lediglich militärisch erreicht. Echte Kooperation ist nach diesem Verständnis nicht möglich.
Die androzentristische Politikwissenschaft
Diese Perspektive auf internationale Politik ist laut Tickner stark androzentristisch. Damit ist gemeint, dass eine Sicht auf Politik eingenommen wird, die das typisch Männliche überbetont und das Weibliche abwertet.
Mit Männlichkeit und Weiblichkeit meint Tickner sozial konstruierte Vorstellungen von Geschlech
t. (Cis-)Männlichkeit wird – in westlichen Kulturen – mit Dominanz und Rationalität verknüpft, (Cis-)Weiblichkeit mit Passivität und Emotionalität.
Indem angeblich männliche Eigenschaften wie Dominanz fokussiert werden, werden andere Aspekte von Politik abgewertet. Kooperationen gelten als irrational, während gewaltvolle Konflikte als normal dargestellt werden. Auch dass Sicherheit in Zeiten nuklearer Waffen und der Klimakrise auf Kooperation statt auf Aufrüstung angewiesen ist, wird so ausgeklammert.
Wissenschaft als selbsterfüllende Prophezeiung
Politische Theorien prägen nicht nur die Wissenschaft, sondern letztlich auch die Politik selbst. So wie Morgenthau vom zweiten Weltkrieg geprägt wurde, hat der Realismus wiederum Wissenschaftler*innen, politische Berater*innen und letztlich auch Politiker*innen geprägt.
Wissenschaft schafft bis zu einem gewissen Grad auch Wirklichkeiten. Wie wir über Politik sprechen, beeinflusst letztendlich auch politische Prozesse. Und das gilt im Besonderen für eine Theorie mit einer solchen Durchschlagskraft, wie die Morgenthau’sche.
Wir brauchen eine feministische Politikwissenschaft
Um für zukünftige Herausforderungen gewappnet zu sein, muss die feministische Perspektive auf Politik(wissenschaft) und Außenpolitik weiter vorangetrieben werden. Nicht „nur“ um Frauen den Weg in Politik(wissenschaft) zu ebnen und so das Gender Gap in der Politik zu überwinden. Sondern auch um internationale Politik als mehr zu begreifen als einen Kampf um Macht und Gewalt. Denn wenn wir mitten in einer Pandemie und Klimakrise etwas brauchen, dann ist es globale Solidarität.
Pia Reiter
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