Ayelet Gundar-Goshen: Löwen wecken.
Etan Grien ist Arzt in einem Krankenhaus irgendwo in einem Wüstenort in Israel. Sein Leben gerät jäh aus den Fugen, als er eines Nachts einen Mann umfährt, ihn sterbend liegen lässt und Fahrerflucht begeht. Er verschweigt den verstörenden Vorfall, um Familie – seine Frau Liat und seine beiden kleinen Söhne – und Karriere nicht zu gefährden. Doch am nächsten Tag steht eine junge Frau aus Eritrea vor der Tür mit seinem Portemonnaie in der Hand, das sie am Unfallort gefunden hat. Sirkit ist die Ehefrau des überfahrenen Mannes. Sie bestellt Etan in eine verlassene Autowerkstatt, wo er illegale Einwanderer behandeln soll. Da sie ihn in der Hand hat, muss er sich darauf einlassen und arbeitet jede Nacht heimlich in der improvisierten Krankenstation. Allmählich entsteht trotz des tiefen Grabens zwischen Etan und Sirkit eine beidseitige Anziehung, die aber stumm und unausgesprochen bleibt. Etan verstrickt sich immer tiefer in Lügen und entfernt sich immer mehr von Liat, die seine plötzliche Veränderung nicht versteht. Sie ist als ehrgeizige junge Polizistin mit der Aufklärung des Unfalls betraut und ahnt nichts von der Täterschaft ihres Mannes. Neben dem spannungsgeladenen Fortgang der Handlung werden die Lebensgeschichten von Sirkit, Liat und Etan erzählt, die die Brüchigkeit und tiefe Spaltung der israelischen Gesellschaft zutage fördern: das Elend Illegaler Einwanderung, Korruption, Rassismus, Diskriminierung und Gewalt. Vollkommen unsentimental, aber voller Wucht schildert Gundar-Goshen, wie die ProtagonistInnen sich an Gut und Böse abarbeiten und nach menschlicher Würde suchen. Die Stummheit der Beziehungen lässt viel Raum für innere Monologe voller Bilder und schonungsloser Beobachtung. Die unausweichliche Katastrophe rückt näher, ohne dass vor den letzten Seiten der Ausgang absehbar ist. Ein grandioses Buch, das einen lange nicht mehr loslässt.
Das Buch ist erschienen im Verlag Kein & Aber, Zürich-Berlin 2015, 424 S.
Ayelet Gundar-Goshen ist 1982 in Israel geboren. Sie studierte Psychologie in Tel-Aviv Jaffa und danach Film und Drehbuch. Sie arbeitet als Psychologin und schreibt Drehbücher für Kurzfilmproduktionen in Israel. 2012 veröffentlichte sie ihren ersten Roman Eine Nacht, Markowitz, für den sie 2013 den Sapir-Preisfür das beste Romandebüt erhielt.