Roland Albrecht: Museum der Unerhörten Dinge
Was hat ein Museumsbesuch in Berlin auf einem Literaturblog zu suchen? Ganz einfach: Das „Museum der unerhörten Dinge“ besteht nicht nur aus ungewöhnlichen Gegenständen, sondern aus den Geschichten, die diese Dinge erzählen und die es dort zu lesen gibt. Und die sind Literatur vom Feinsten!
Ich lernte das „Museum der unerhörten Dinge“ vor einigen Jahren bei der Kulturellen Landpartie im Wendland kennen. In dem Dorf mit dem unvergleichlichen Namen Kröte gab es einen ganzen Raum voller kleiner und kleinster Dinge und einem dazu gehörenden Text, auf dem stand, was diese Gegenstände zu erzählen hatten. Da gab es zwei Teile der Schreibmaschine, auf der Walter Benjamin seinen berühmten Essay „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ schrieb; die Versuche, in Wiepersdorf eine Oliven-Eiche zu züchten; Muscheln, aus denen Kaiserin Maria Theresia die Perlmuttknöpfe für die Uniformen ihrer Soldaten herstellen ließ und wie eine Kiste davon nach Mexiko gelangte; das Hochzeitsfoto eines lesbischen Paares von 1950, das offiziell aus Mann und Frau bestand; die versteinerte Rose, die Goethe mit auf seine Italienreise nahm; die eisernen Noten, ein Geschenk der revolutionären Arbeiter der Schiffswerft Roter Stern aus Leningrad an die revolutionären Arbeiter der Rickmers-Werft in Bremerhaven, anlässlich der Aufführung der großen Symphonie der Fabrik-Sirenen in Leningrad am 20. August 1920.…
Eine der allerschönsten Geschichten steht unter einer kleinen unscheinbaren Visitenkarte: „Dr H. Mayer, Traumabgabestelle“. Diese äußerst sinnreiche Einrichtung wird ausführlich beschrieben, denn dort ist es möglich, Träume, die wir aus verschiedenen Gründen loswerden wollen, abzugeben. Wir werden von der Traumbetreuerin über die Möglichkeiten beraten, Träume dauerhaft oder vorübergehend zu deponieren, anderen zur Verfügung zu stellen, einzutauschen oder nach gewisser Zeit zurückzunehmen.
Wer die ganze Geschichte lesen will, hier der Link zur Museums-Webseite.
Diese Dinge und viele mehr samt ihrer Geschichten sind in Berlin in einem winzig kleinen Museum zu bewundern und sind in einem feinen kleinen Büchlein veröffentlicht.
Das Museum wollte ich schon lange mal besuchen. In der Crellestraße mit schönen alten Berliner Häusern, Bäumen und netten Cafés gibt es zwischen der Hausnummer 5 und 6 eine Art Hausdurchgang von wenigen Quadratmetern – aber was brauchen diese kleinen Dinge mehr? „Es ist das meistbesuchte Museum Berlins, wenn man die Besucherzahlen zu den Quadratmetern des Museums in Beziehung setzt“, erklärt der Verfasser und Museumsdirektor Roland Albrecht dazu.
Das Wunderbare an den „unerhörten Dingen“ ist die Ernsthaftigkeit beim Fabulieren, die Roland Albrecht an den Tag legt. Er selbst beschreibt das so:
„UNERHÖRT sind die Exponate bis zu ihrem Einzug ins Museum. Diesen übersehenen und unbeachteten Dingen widme ich mein Ohr, lasse sie reden, schweigen, schimpfen, anklagen, gebe ihnen meine frei schwebende Aufmerksamkeit – unvermutet beginnen sie plötzlich zu erzählen, meist ungeheuerliche Geschichten, unglaubliche Erlebnisse, unwahrscheinliche Ereignisse. Dies nun Erhörte protokolliere ich und überprüfe es auf Stimmigkeit und innere Plausibilität. Es ist jedoch nicht so, dass die Dinge immer die Wahrheit erzählen, sie geben an, sie übertreiben und setzen sich in ein besseres Licht, selbst Lügen sind nicht ausgeschlossen.“ So schweben auch Besucher und Besucherin beim Betrachten der Dinge und beim Lesen der Geschichten auf dem magisch schwankenden Boden zwischen Dichtung und Wahrheit. Und lässt sich nur zu gern verzaubern von den Erzählungen. So könnte es gewesen sein! Große Fragen in kleinen Dingen. Führen sie uns aufs Glatteis? Oder erklären sie uns die Welt?
Warum, frage ich mich, als ich das Museum verlasse, sprechen eigentlich zu mir nicht die Dinge um mich herum, über das was sie Aufregendes erlebt haben, bevor sie sich bei mir niederließen? Ich müsste vielleicht einfach genauer hinhören….
Das Buch von Roland Albrecht „Museum der Unerhörten Dinge“ ist erschienen bei Wagenbach, 2. Auflage, Berlin 2005, hat 115 Seiten, kostet 14,90 und eignet sich hervorragend zum Verschenken – wenn man es dann überhaupt noch hergeben will.