Juli Zeh: Unterleuten
Ein Dorf im Brandenburgischen im Jahr 2010. Klein, nette alte Bauernhäuser, mit einer Handvoll Bewohnern, umgeben von viel Natur – das könnte eine Idylle sein. Diesen fatalen Irrblick treibt uns Juli Zeh ziemlich schnell aus. Schon die Tatsache, dass ihr neuer Roman 640 Seiten hat, lässt das erahnen – eine Idylle wäre auf ein paar banalen Seiten abgehandelt. Stattdessen führt sie uns Schritt für Schritt in die dörfliche Hölle, die sie mit messerscharfem Blick und spitzer Feder genüsslich seziert.
Die Ausgangslage
Eine Handvoll Akteurinnen und Akteure, die kapitelweise ihre Sicht der Dinge zeigen, die sich und das Dorf nach und nach enthüllen, laufen uns immer wieder über den Weg. Da sind die eingesessenen Bewohner wie der Großbauer Gombrowsky, der die kollektivierte DDR-Landwirtschaft überstanden hat und in seiner neuen Bio-GmbH dem halben Dorf Arbeit gibt, mit den entsprechenden Abhängigkeiten. Sein Gegenspieler und Alt-Kommunist Kron, der die Wende nicht verstehen will, samt Tochter, ihrem Ehemann, der seine Erfolglosigkeit als Schriftsteller durch zwanghaftes Rasenmähen bekämpft, und der verzogenen Enkelin Krönchen. Dann die zugezogenen Städter, die der naiven Romantik vom Landleben erlegen sind und böse in der Wirklichkeit aufschlagen. Wie der Ex-Professor Gerhard, der seine großen Gesellschaftsentwürfe in einen Vogelschützerjob eingetauscht hat und verbissen 12 Kampfläufer gegen das gesamte Dorf und den Rest der Welt verteidigt, dazu seine deutlich jüngere Frau und ehemalige Studentin Jule, die an ihrem Baby klebt. Oder der gescheiterte Automechaniker Schaller, der einen Kleinkrieg in Form brennender Autoreifen gegen Gerhard und Jule anzettelt. Und die Jungunternehmerin Linda Franzen, die für ihre Geschäftsidee vom Pferdeparadies über Leichen zu gehen bereit ist. Auch ihr Freund Frederik aus der Computerspielbranche ist ihr nur hin und wieder von Nutzen. Viele haben alte Rechnungen zu begleichen, denen die Neuankömmlinge neue hinzufügen.
Kristallisationspunkt des Romans, der das ganze Dorf in Bewegung bringt und die alten Konflikte aufrührt, ist ein geplanter Windpark, den fast niemand will, der aber einigen Bewohnern eine Menge Geld bringen könnte – wenn sie es schaffen, sich jeweils die entsprechenden Grundstücke abzuluchsen. Lug und Betrug, Intrigen und der Streit aller gegen alle in sämtlichen Farben und Formen nehmen ihren Lauf, ein Kind verschwindet, Leichen aus dem Keller tauchen auf, der Dorfkrimi nimmt seinen Lauf.
Der Trick: Jeder führt sich selbst vor
Jedes Kapitel des Romans ist aus der Sicht einer der handelnden Personen geschrieben und gibt den Lesenden eine Übersicht, zugleich aber den Einblick in die Psyche, die Vorgeschichten und Beziehungen, von denen die jeweils anderen nur stückweise Kenntnis haben. Immer wieder wechselt Juli Zeh so die Perspektive und führt alle vor: Die Strukturen der Eingesessenen, aber auch die scheinbar intakten Paarbeziehungen der Aussteiger sind zerfressen von Geltungssucht, Sturheit, Bosheit und gegenseitiger Ausnutzung. Alle kommen zu Wort und entlarven sich selbst, ohne die explizite Wertung durch die Autorin.
Das Ganze also eine trübe Elendsbeschreibung? Weit gefehlt.
Jeder Sichtwechsel treibt die Handlung voran, die letztlich auch ein spannender Krimi ist. Mit einer präzisen Lust an den Abgründen der Protagonisten beschreibt Juli Zeh den Weg in die Katastrophe, lässt nicht die kleinste Gemeinheit aus und macht uns gleichzeitig schaudern und lachen. Gemeinheit ist eben unterhaltsamer als Freundlichkeit. Manches kommt uns tief drinnen bekannt vor. Wenn wir bereit sind, es zuzugeben. Es muss ja niemand mitkriegen.
Selten greife ich zu einem Buch mit über 600 Seiten, aber ich konnte es fast nicht mehr aus der Hand legen. Ein faszinierender Roman, beste Unterhaltung mit viel Tiefenschärfe.
Das Buch hat schon einigen literarischen Staub aufgewirbelt, die Meinungen der Rezensionen gehen sehr auseinander. Falls jemand davon etwas lesen will, gibt es bei Bücher.de vor allem zwei längere Besprechungen, die lesenswert sind.
Der Roman ist erschienen bei Luchterhand, hat 640 Seiten und kostet 24,99 Euro. Gibt es natürlich auch in der Stadtbibliothek, ist aber derzeit noch oft ausgeliehen.