Carson McCullers, Die Ballade vom traurigen Café
„Die Stadt selbst ist trostlos…“ so beginnt die Autorin ihre Erzählung. Eine Kleinstadt im amerikanischen Nirgendwo der 20er oder 30er Jahre. An der verlassenen Hauptstraße steht ein altes windschiefes vernageltes Haus. Es war vor langer Zeit ein Laden und ein Café und gehörte der reichen Miss Amelia, einer eindrucksvollen Frau: unabhängig und stark wie ein Mann, die ausgezeichneten Whisky brannte, handwerklich ebenso geschickt war wie beim Heilen von Krankheiten, der alles gelang – außer gut mit anderen Menschen auszukommen. Sie zog alle übern Tisch und fing wegen Nichtigkeiten Streit an. Kurz, sie war in der ganzen Stadt respektiert und gefürchtet.
Eines Abends, Miss Amelia und einige Landarbeiter saßen auf der Veranda vor dem Laden, tauchte in der schläfrigen Stille der Dorfstraße eine Gestalt auf: Ein buckliger verwachsener Mann, jämmerlich, zerlumpt und dreckig, mit einem alten Koffer voller Plunder stand vor ihnen und behauptete, mit Miss Amelie verwandt zu sein. Entgegen aller Erwartungen jagte sie ihn nicht davon, sondern nahm ihn bei sich auf. „Vetter Lymon“ nistete sich auf Dauer bei Miss Amelie ein und es war unübersehbar: sie liebte den Buckligen. Sie verwöhnte und beschenkte ihn, und ihm war es schließlich zu verdanken, dass das Café eröffnet und zum Anziehungspunkt für die ganze Stadt wurde. Der Vetter stolzierte dort wie ein Gockel herum und war die ebenso hässliche wie faszinierende Attraktion für die Besucher, während Miss Amelia ihn mit einem verträumten Gesichtsausdruck gewähren ließ.
„Nun müssen wir einige Jahre verstreichen lassen“, lässt uns McCullers wissen. Friedliche Jahre, in denen nicht viel geschah. Aber es gab noch eine Vorgeschichte: Miss Amelia war einmal verheiratet gewesen – ein merkwürdiges Zwischenspiel, das genau 10 Tage währte und dessen Nachwehen eine fatale Rolle im Fortgang der Geschichte spielen wird. Der von Miss Amelia weggejagte Ehemann trieb sein Unwesen in der Gegend und saß für viele Jahre im Zuchthaus. Nun wurde er entlassen und tauchte in Miss Amelias Café auf, was die ganze Stadt aufrührte, und Miss Amelias Leben mit Vetter Lymon in den Grundfesten erschütterte. Bald nahm das Unglück seinen Lauf und würde kein gutes Ende nehmen.
Chronistin des amerikanischen Südens
Carson McCullers erzählt die Geschichte als Chronistin, sie bleibt Beobachterin und kriecht ihren Figuren nicht ins Herz, sie lässt ihnen ihre Rätsel. Wir werden an den Mutmaßungen der ganzen Stadt über Miss Amelia beteiligt, erfahren aber auch nicht mehr als sie, zum Beispiel, warum sie seinerzeit geheiratet hat und welcher die Art der Beziehung der beiden ist. Auch beim dramatischen Fortgang der Ereignisse bleibt McCullers lakonisch und beschränkt sich auf das Erzählen dessen was geschieht. Die Gefühle, die ins Spiel kommen, beschreibt sie in kleinen Gesten und Vorkommnissen. Aber wie sie das macht! Hier eine Kostprobe:
Der Whisky den Miss Amelia brennt, ist weit und breit berühmt. Er schmeckt nicht nur hervorragend, sondern kann auch einiges auslösen. „Dinge, die uns bis dahin verborgen waren, Gedanken, die in den hintersten Winkel unsres dunklen Geistes verdrängt waren, werden plötzlich erkannt und begriffen. Ein Spinner, der nur an seine Spinnmaschine gedacht hat, an seinen Henkelmann, sein Bett und wieder an seine Spinnmaschine, trinkt vielleicht mal am Sonntag von ihrem Whisky und sieht unterwegs eine Sumpflilie. Und er wird die Blüte in die Hand nehmen, wird den goldenen, kunstvollen Kelch betrachten, und plötzlich trifft ihn ihre Lieblichkeit – so heftig wie ein Schmerz. Und ein Weber blickt vielleicht unversehens auf und sieht zum ersten Mal den kalten unheimlichen Glanz des mitternächtlichen Januarhimmels, und in tiefem Erschrecken ob seiner eigenen Winzigkeit stockt ihm fast der Herzschlag. Solche Dinge also können einem widerfahren, wenn man Miss Amelias Whisky getrunken hat.“ Solche kleinen lyrischen Perlen sind rar und leuchten dafür besonders hell. Und einmal erlaubt sich McCullers beiläufig einen kleinen Exkurs über das Lieben und Geliebt-werden – sehr schön zu lesen! Zuweilen bezieht sie uns LeserInnen in das Geschehen mit ein, so als erzähle sie uns die ganze Geschichte bei einem Glas ihres Whiskys. Die melancholische Stimmung der amerikanischen Südstaaten atmet aus jeder Seite des Buchs. Und McCullers ist die Meisterin dieser Melancholie. Für mich ein Klassiker!
Das Buch erschien zum ersten Mal 1943. Eine deutsche Ausgabe 1971 ist bei Diogenes erschienen, hat 144 Seiten und kostet rund 13 €. Es ist in der Bremer Stadtbibliothek ausleihbar. Ich besitze eine sehr schöne Lizenzausgabe der Büchergilde Gutenberg, die leider nicht mehr nachgedruckt wurde.