Verena Boos, Blutorangen
Es beginnt im Jahr 2004 mit einem kurzen Kapitel, in dem Vieles im Unklaren bleibt und das uns doch in eine abgründige Geschichte hineinzieht: Ermordete werden – nach 65 Jahren – aus einer Grube geborgen, eine Frau noch ohne Namen nimmt an der Ausgrabung teil und wird zu einem anderen bedeutungsvollen Ereignis gerufen. Dann werden wir uns als LeserInnen nach und nach in eine verschlungene Geschichte hineinfinden, die über vier Generationen geht und ihren Anfang im faschistischen Spanien nimmt: im Jahr 1939, als die Rache des Franco-Regimes gnadenlos über die Reste des republikanischen Widerstands hereinbrach. Im Mittelpunkt der Geschichte steht Maite oder Maria Teresa – der Name, den ihr die Eltern gaben. Ihr Vater war sein Leben lang strammer Franco-Anhänger, Soldat und Mitglied der berüchtigten Guardia Civil, ihre Mutter Isabel, die zu ihm hält und doch ihr Leben lang ihre eigenen Geheimnisse bewahrt.
Die rebellische junge Maite entzieht sich 1990 der reaktionären Enge und Strenge des Elternhauses durch ein Erasmus-Studium in München. Bevor wir ihre Lebenslinie weiter verfolgen, gelangen wir ins Jahr 2004, auf eine Zugreise des alten Antonio, seiner Schwiegertochter Margot und seinem Enkel Carlos, der vor einigen Jahren Maite geheiratet hat. Sie reisen zusammen nach Spanien, zu den Toten von 1939.
Francos Schatten reichen bis nach Deutschland
Die Autorin macht uns nicht ganz leicht, die Familienbeziehungen und Zeitsprünge nachzuvollziehen. Immer wieder blättere ich zurück in den Stammbaum, den sie an den Beginn des Buches gesetzt hat. Und vor den Kapiteln steht jeweils das Jahr, in dem wir uns befinden. Nach und nach setzt sich das Puzzle zusammen: Antonio, der 1939 in letzter Minute vor Francos Schergen flieht, mit Julia und ihrem gemeinsamen Kind Paul, während sein Vater erschossen wird. Im Internierungslager in Frankreich werden Julia und Antonio getrennt, er entkommt aus dem Deportationszug und landet in Bayern auf einem Bauernhof, wo er den Krieg überlebt. Erst später sieht er Julia und den kleinen Paul wieder, doch Julia hält es nicht in Deutschland, sie verlässt Mann und Sohn und hinterlässt bei beiden Wunden, die nicht heilen wollen. Paul also, der deutsch-spanische Junge, heiratet Margot und bekommt mit ihr Carlos, der schon weit weg ist von der Franco-Zeit und erst wieder mit ihr konfrontiert wird, als er Maite während ihres Erasmus-Jahrs kennen und lieben lernt. Und Maite, mit der Vergangenheit ihres Vaters konfrontiert wird, von der sie kaum etwas wusste. Ein Foto aus Carlos´ Familie zeigt einen Soldaten in einer Uniform, die sie wiedererkennt. Maite sucht den Kontakt zu Antonio, und so erfahren wir die Geschichte von Maites Vater: Er meldete sich zu der „Blauen Division“, einer Gruppe von spanischen Soldaten, die für Nazi-Deutschland in den Russlandfeldzug gingen und dort verheizt wurden.
Ein würdiges Ende für die Ermordeten
Allmählich fügen sich die losen Fäden der ganzen Geschichte zusammen – immer enger zeigen sich die Verbindungen zwischen dem deutschen und dem spanischen Faschismus, in die beide Familien verwickelt sind. Nun sind sie also 2004 auf dem Weg nach Spanien zu einer Exhumierung von Franco-Opfern, zu denen auch Antonios Vater gehört. Die Ausgrabung der Toten wird für alle ein erschütterndes Erlebnis und eine schmerzliche Reise in ihre Vergangenheit, für jedes Familienmitglied auf je eigene Weise, insbesondere für Maite. Der Roman ist spannend zu lesen und enthält viel historisches Hintergrundwissen, das die Autorin intensiv recherchiert hat. Sie beschreibt auch gut in den persönlichen Beziehungen der Familie die kulturellen Brüche, die Geflüchtete aus Spanien im fremden Deutschland erlebten, und nicht zuletzt die Wunden, die der verlorene Bürgerkrieg in Spanien bis heute hinterlassen hat. Lesenswert!
Das Buch „Blutorangen“ ist 2017 im Aufbau Taschenbuch Verlag erschienen, hat 413 Seiten und kostet 12,99 Euro.