Das Leben von den Füßen her betrachtet

Foto von einem Plattenbau mit roter Schrift

(c) Hanser Verlag

Katja Oskamp, Marzahn mon amour. Geschichten einer Fußpflegerin

Was für ein wunderbares Buch! Schon den Titel finde ich hinreißend, und genauso originell ist das ganze Buch. Marzahn – einst die größte Plattenbausiedlung der DDR – ist heute ein Viertel, auf den meist mit einer Mischung aus Abneigung und Mitleid heruntergeguckt wird. Ganz anders Katja Oskamp: Sie beschreibt mit feinem Humor und liebevollem Blick die BewohnerInnen dieses Stadtteils von Berlin, die zur ihr kommen, um sich bei ihr die Füße pflegen zu lassen und zu erzählen. Und das ist alles andere als Mitleid erregend, sondern äußerst kurzweilig.
Die Autorin hat sich mit 44 Jahren zur Fußpflegerin umschulen lassen, nachdem sich kein Verlag für ihr Buchprojekt gefunden hat, und arbeitet nun in Tiffys Kosmetikstudio. Da kommen sie alle, die meisten Stammkundinnen und -kunden älteren Jahrgangs und „reparaturbedürftig“. Wir lernen viel über verhornte Fersen, Rollnägel und Hammerzehen, aber vor allem erfahren wir sehr viel über das Leben und den Alltag der Leute, denn zum Erzählen eignet sich nichts besser als die gute halbe Stunde auf dem Fußpflegestuhl. Fast zwanzig Menschen unterhalten sich mit Katja Oskamp und erzählen aus ihrem Leben, während ihre Füße geschrubbt, behandelt und massiert werden.

Da ist Frau Guse, mit der alle sechs Wochen exakt dasselbe Gespräch stattfindet, über Krankheiten, das nächste Mittagessen und die Planung der eigenen Beerdigung. Da ist Frau Blumeier, die seit Kindestagen im Rollstuhl sitzt, eine unerschütterliche Frohnatur ist und sich gerade mit über 60 frisch verliebt hat. Oder Frau Frenzel mit ihrem Dackel Amy – einem von etwa elftausend registrierten Hunden in Marzahn-Hellersdorf. Frau Frenzel ist mit den Männern durch und findet „Lieba zehn Dackel als een Mann“. Da ist auch Herr Pietsch, ehemaliger SED-Funktionär, der immer noch so tut als sei er amtlich da. Nach bewegten Dienstjahren, Affären und Scheidung lebt er allein und „hat nicht nur zu seinen Verwandten, auch zu seinen Füßen den Konta kt verloren“.

Und nicht zuletzt ist da das Team des Salons: Tiffy, Flocke und Katja , die wir auf ihrem „Betriebsausflug“ in die Saarower Therme begleiten. Auch hier erfahren wir einiges über die verbogenen Biografien von drei tapferen Frauen, die ihr Leben in die Hand genommen haben.

In Corona-Zeiten würden wir von „Heldinnen und Helden des Alltags“ sprechen, aber jedwedes Pathos ist Katja Oskamp völlig fremd, ebenso wie ihren KundInnen, die es fast alle nicht besonders leicht im Leben gehabt haben und notgedrungen zu Lebenskünstlern geworden sind.

Jede der Geschichten ist einzigartig und das bringt die Autorin auch so zur Geltung. Sie schreibt leichtfüßig, aber niemals platt. Wir lachen beim Lesen, über den Mutterwitz der Figuren mit ihrer Berliner Schnauze und über die Komik der treffenden Sprache, mit der uns Oskamp zum Lachen bringt, aber sie und wir lachen niemals über die Menschen, sondern mit ihnen. Und mehr als einmal bleibt uns das Lachen auch im Halse stecken.

So viel Witziges, Trauriges und gleichzeitig Tröstliches passt auf nicht einmal 150 Seiten. (Schön dass es auch noch gute Bücher gibt, die nicht auf tausend Seiten angewiesen sind…!) Ein Buch, das nicht nur nachdenklich macht, sondern auch gute Laune.

(c) Paula Winkler

Katja Oskamp wurde 1970 in Leipzig geboren und ist in Berlin aufgewachsen. Seit 2015 arbeitet sie als Fußpflegerin im Plattenbaubezirk Berlin-Marzahn.
Das Buch „Marzahn mon amour“ ist inzwischen in der 9. Auflage im Hanser Verlag erschienen, hat 143 Seiten und kostet 16 €. Es ist auch in der Bremer Stadtbibliothek ausleihbar – wenn sie dann wieder aufmacht. Aber auch dort ist es fast immer ausgeliehen, also ist kaufen nicht so verkehrt und hilft dem notleidenden Buchhandel!.

2 Gedanken zu „Das Leben von den Füßen her betrachtet

  1. Heidemarie Gniesmer

    Liebe Christel, die Buchbesprechung habe ich gleich ausgedruckt und werde sie bei meinem nächsten Besuch meiner Fußpflegerin überreichen. Und wenn sie das Buch nicht von ihrer Familie geschenkt bekommt, dann werde ich es ihr vielleicht zu Weihnachten schenken. Vorher will ich es aber auch lesen.

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