Schräg, magisch und herzerwärmend


Mariana Leky: Was man von hier aus sehen kann

Luise ist zehn und lebt in einem kleinen Dorf im Westerwald, wo die Menschen alles kurz ausdrücken, „weil sie das Sprechen gern schnell hinter sich bringen“. Ihr Großmutter Selma ist eine resolute und freundliche Person, aber alle paar Jahre jagt sie dem Dorf einen Riesenschrecken ein: Wenn sie von einem Okapi träumt, stirbt innerhalb von 24 Stunden oder kurz danach jemand. Wie bereits mehrmals vorgekommen. Die Handvoll Dorfbewohner sind beunruhigt, auch wenn sie eigentlich behaupten, nicht abergläubisch zu sein: wen würde es treffen? Viele finden es an der Zeit, reinen Tisch zu machen und mit lang verschwiegenen Wahrheiten herauszurücken. Geständnisse werden formuliert, Briefe geschrieben – oder wie im Fall des Optikers – eine Tasche voller Liebesbriefanfänge an die verwitwete Selma zu ihrem Haus transportiert, die allerdings doch nicht zum Einsatz kommen.

Ein überschaubares Grüppchen von Personen bevölkert die Geschichte: Luises Vater, der Dorfarzt, und Luises Mutter mit ihrem Blumenladen haben wenig Zeit für ihre Tochter und sind außerdem mit einer permanenten Ehekrise beschäftigt, so dass Selma und der Optiker die eigentlichen und liebevollen Bezugspersonen für Luise und ihren Freund Martin sind. Martin nämlich hat keine Mutter mehr und einen gewalttätigen Säufer als Vater. Die traurige Marlies ist mit unglaublicher Hartnäckigkeit schlecht gelaunt. Selmas Schwägerin Elsbeth ist als einzige im Dorf wirklich abergläubisch, und nervt alle ein bisschen mit ihren ungebetenen Ratschlägen. Dann gibt es noch Selmas riesigen grauen Hund: „Alaska stand auf. Es dauert immer ein wenig, bis etwas Großes sich vollständig erhoben hat, selbst wenn es noch jung ist.“

Nachdem 24 Stunden rum sind und alle noch am Leben, warten am Briefkasten einige Leute, um ihre hastig verfassten und eingeworfenen Briefe vom Briefträger zurückzuholen.

Und als alle denken, es ist vorbei…

… da kommt der Tod doch noch, und so jäh und gemein wie wir es nicht erwartet und erst recht nicht gewünscht haben.

Aber das ist nicht die einzige plötzliche und einschneidende Wende in dem Roman. Wie aus dem Nichts taucht Frederik im Dorf auf, der als buddhistischer Mönch in einem japanischen Kloster lebt und an einer Gehmeditation in der Nähe teilnimmt. Und die inzwischen jugendliche Luise weiß sofort, dass er derjenige ist, den sie will. Dass sie ihn nicht so bekommt wie sie möchte, nimmt auch dieser Liebesgeschichte jeden Kitsch.

 

Eine so vergnügliche Lektüre ist mir lange nicht unter die Augen gekommen. Eine solch umwerfende Situationskomik, die aber nie platt und zum Selbstzweck wird. Ein Geschichte, die das Tragische und Traurige immer in die tröstliche Freundlichkeit rund um Luise einbettet. Ein Wortwitz, der  alle Freuden und Ängste der Leute greifbar und plastisch macht.

 

Sprache ist für die Autorin offensichtlich ein Element, das sie mit großer Lust und Leichtigkeit beherrscht, manchmal auch mit ironischer Bitterkeit. Sie schaut hinter die Buchstaben und zeigt, wie Sprache auch zum Verstecken benutzt wird: Luises Großvater sei im Krieg gefallen, wurde ihr erklärt – sie stellte sich vor, er sei gestolpert. Ihr Vater sagte, der Großvater sei im Krieg geblieben, worunter sich Luise vorstellte, „dass der Krieg etwas war, in dem man sich irgendwann im Leben länger aufgehalten hatte.“

Gegenstände werden manchmal lebendig und bekommen eine Stimme. „Wenn man unbedingt jemanden anrufen möchte und sich genauso unbedingt davor fürchtet, fällt einem plötzlich auf, wie viele Telefone es gibt,“ das brandneue Tastentelefon, das elegante ihrer Mutter, Elsbeths in Samtbrokat verkleidete, das neben der Kasse in der Buchhandlung, in der Luise inzwischen eine Buchhandelslehre begonnen hat, und nicht zuletzt das gelbe Telefonhäuschen: „Wir sind bereit,“ sagen all diese Telefone, „an uns liegt es nicht“. Und dann: „Es klingelte solange, als müsse sich das Klingeln mühselig bis nach Japan durchschlagen.“ Bei Leky kann eine Frage handgreiflich werden und in einem wühlen „wie in einer Handtasche, in der man den Schlüssel sucht“.

Es ist wohl nicht zu übersehen, dass ich Mariana Lekys Sprachgenie vollständig erlegen bin. Eine handfeste Sprache nahe bei den Figuren, die in ihren trockenen Dialogen unglaublich lebendig werden. Und es ist ein Buch über die Liebe unter den Menschen, die möglich ist.
Unbedingt lesen!

Das Buch „Was man von hier aus sehen kann“ ist 2017 bei Dumont in Köln erschienen und hat 320 Seiten.