Schlagwort-Archive: Zeitgeschichte

Das Leben von den Füßen her betrachtet

Foto von einem Plattenbau mit roter Schrift

(c) Hanser Verlag

Katja Oskamp, Marzahn mon amour. Geschichten einer Fußpflegerin

Was für ein wunderbares Buch! Schon den Titel finde ich hinreißend, und genauso originell ist das ganze Buch. Marzahn – einst die größte Plattenbausiedlung der DDR – ist heute ein Viertel, auf den meist mit einer Mischung aus Abneigung und Mitleid heruntergeguckt wird. Ganz anders Katja Oskamp: Sie beschreibt mit feinem Humor und liebevollem Blick die BewohnerInnen dieses Stadtteils von Berlin, die zur ihr kommen, um sich bei ihr die Füße pflegen zu lassen und zu erzählen. Und das ist alles andere als Mitleid erregend, sondern äußerst kurzweilig. Weiterlesen

Selbst schuld?

Buchcover mit einem weißen Heizkörper

(c) Verbrecher Verlag

Anke Stelling, Schäfchen im Trockenen

Resis Lage ist prekär: Schriftstellerin ohne festes Einkommen, vier Kinder, davon zwei schwer pubertierend, der Mann Sven ebenfalls brotloser Künstler, finanziell ständig am Limit, eine gekündigte Wohnung und eine gescheiterte Freundschaft mit ihrer langjährigen Freundesclique. Sie selbst schreibt an einem Buch – genau an diesem Buch, das ich gerade lese, wie mir scheint. Ein „generationsübergreifendes Überforderungsprojekt“, das Resi und Sven sehendes Auges angezettelt haben, mit dem Resi hadert und zu dem sie dennoch steht – selbst Schuld eben. Schon der erste Teil des Buchs vermittelt den Alltag dieser Mutter, ohne sich und uns Lesenden die Entscheidung zwischen Heulen und Lachen zu erlauben, denn es ist immer beides. Abends, wenn die letzten Schulbrote mit der ungesunden Erdnussbutter geschmiert sind, wird Resi in ihrem kleinen Kabuff – die Abstellkammer, wo sonst immer die Waschmaschinen stehen – genau über den Wahnsinn des Familienlebens schreiben und sich fragen, warum sie dieses Leben führt. Weiterlesen

Freiwillig gefangen

 

Buchcover mit Frau und Mann in blauem Overall

(c) Berlin Verlag

Margaret Atwood, Das Herz kommt zuletzt

Charmaine und Stan sind noch nicht lange verheiratet, sie sind ein typisches Paar der amerikanischen unteren Mittelschicht. Sie hat es gern sauber und liebt Blümchenmuster, er gebraucht schon mal einen Kraftausdruck, fühlt sich von „den Reichen“ übervorteilt und hält den Mund. Gerade haben sie begonnen, sich eine Existenz aufzubauen, da geraten sie in eine Wirtschaftskrise, die viel Ähnlichkeit mit der Finanzkrise hat. Sie verlieren ihr Häuschen, das sie durch harte Schufterei abbezahlen, und ziehen in ihr Auto um, immer in Angst vor Vandalen. Charmaine hat einen kleinen Job in einer schäbigen Bar, dort sieht sie die Werbung für die Stadt Consilience mit dem „Positron-Projekt“. Weiterlesen

Liebe auf brüchigem Eis

Buchcover mit Paar und Wellen

(c) Verlag Kiepenheuer & Witsch

Dorit Rabinyan: Wir sehen uns am Meer

Liat stammt aus Tel Aviv, Chilmi aus Ramallah – aber sie wären sich dort, obwohl so nahe beieinander, nicht begegnet. Sie mussten um die halbe Welt, um sich zu treffen. In New York lernen sie sich kennen und verlieben sich Hals über Kopf, fliegen sozusagen auf- und ineinander. Er ist Maler, sie Übersetzerin, beide Mitte/Ende zwanzig. Mitten im eiskalten New Yorker Winter tauchen sie in ihre Liebe ein und sind einander für Wochen genug. Eine intensive Liebesgeschichte, die aber entscheidende Fallstricke aufweist. Eine Israelin und ein Palästinenser, das ist nur möglich um den Preis, den festgefahrenen politischen Hintergrund zwischen Israel und Palästina auszuklammern. Weiterlesen

Eine junge Frau gegen Rassismus

Buchcover mit Streifen

(c) Fischer Verlag

Chimamanda Ngozi Adichie: Americanah

Ifemelu aus Nigeria, die in den 1990er Jahren in die USA ausgewandert ist, hat nach einigen Jahren beschlossen, in ihre Heimat zurückzukehren. Um diesen Beschluss und seine Ursachen im alltäglichen Rassismus in den USA dreht sich das Buch. In vielen Rückblenden erzählt Ifemelu ihre Lebensgeschichte, ihre Jugend in Nigerias unterer Mittelschicht, ihre erste und große Liebe zu Obinze und ihren Wunsch nach einem Leben ohne Armut. Denn in Nigeria lebt ihre Familie zwar nicht am Existenzminimum, aber die Verhältnisse und damit die Chancen auf eine Zukunft verschlechtern sich immer mehr, die Korruption nimmt zu und ohne Protektion und Beziehungen kommt niemand zu etwas. Weiterlesen

Familiengeschichten

 Adriana Altaras, Titos Brille. Die Geschichte meiner strapaziösen Familie

 Adriana_Altaras_Titos_BrilleTrug Marschall Tito – ja, um den handelt es sich – überhaupt eine Brille? Jedenfalls hat der Vater sie ihm repariert und Anlass für ihr Erzählen ist der Tod ihrer Eltern. Sie ist mit der Nachlassverwaltung betraut, eine Mammutaufgabe, da die Eltern seit ungefähr 40 Jahren kein Zettelchen weggeworfen haben. Für Altaras Zeit zum Sinnieren, für Wutausbrüche, für Tränen, zum Selbstmitleid und zum Aufblühen ihrer Stauballergie. Weiterlesen

Doppelleben in Israel

Buchcover mit Landstraße

Cover (c) Kein & Aber Verlag

Ayelet Gundar-Goshen: Löwen wecken.
Etan Grien ist Arzt in einem Krankenhaus irgendwo in einem Wüstenort in Israel. Sein Leben gerät jäh aus den Fugen, als er eines Nachts einen Mann umfährt, ihn sterbend liegen lässt und Fahrerflucht begeht. Er verschweigt den verstörenden Vorfall, um Familie – seine Frau Liat und seine beiden kleinen Söhne – und Karriere nicht zu gefährden. Doch am nächsten Tag steht eine junge Frau aus Eritrea vor der Tür mit seinem Portemonnaie in der Hand, das sie am Unfallort gefunden hat. Sirkit ist die Ehefrau des überfahrenen Mannes. Sie bestellt Etan in eine verlassene Autowerkstatt, wo er illegale Einwanderer behandeln soll. Da sie ihn in der Hand hat, muss er sich darauf einlassen und arbeitet jede Nacht heimlich in der improvisierten Krankenstation. Weiterlesen

Erwachsen werden in Nazi-Österreich

Robert Seethaler: Der Trafikant.

trafikant1937: Die Witwe Huchel schickt ihren 17jährigen Sohn Franz aus Oberösterreich  nach Wien zu ihrem alten Freund Otto Trsnjek, der dort einen Kiosk – eine „Trafik“ betreibt. Hier lernt Franz nicht nur Zeitung lesen, sondern trifft auf interessante Kunden, wie den „Deppendoktor“ Sigmund Freud, mit dem er über die Liebe und das  Leben ins Gespräch kommt. Der Junge hat nämlich Liebeskummer, denn seine erste Liebe Anezka arbeitet im Kabarett und lässt sich nur sporadisch auf ihn ein. Schließlich geht sie mit einem Nazi davon. Die allmähliche Nazifizierung Österreichs und die Judenverfolgung führen zur Verhaftung und Ermordung von Otto, so dass Franz die Trafik weiterführt, bis er selbst in die Hände der Gestapo gerät.

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Landleben unverklärt

Hansen, Dörthe: Altes Land.

Buchcover mit Rabe und Kirschen

Buchcover

 Vera ist ein Flüchtlingskind, das mit ihrer Mutter aus Pommern nach dem Krieg auf dem Obstbauernhof der Eckhoffs gestrandet ist. Sie bleibt mit dem kriegsgestörten Pflegevater Karl in dem düsteren alten Haus, nachdem ihre Mutter mit einem neuen Mann weggeht. Sie wird Zahnärztin, pflegt Karl bis zu seinem Tod, bleibt allein auf dem Hof und ein Fremdkörper zwischen den alteingesessenen Bauern. Ihre ungelebte Liebe Heinrich Lührs vom Hof nebenan ist das Gegenteil: verheiratet, drei Söhne, sein Haus, sein Garten und sein Leben tipp topp. Die beiden bleiben sich aber trotz ihrer Unterschiedlichkeit in Krisenzeiten eine Stütze, z.B. als Karl und als Heinrichs Frau sterben.
Veras Nichte Anne, verhinderte Pianistin und Tischlerin, zieht mit dem kleinen Leon zu ihr auf den Hof, als ihr Mann eine Neue hat. Die beiden spröden Frauen kommen sich allmählich näher, sie verbindet ihre Einsamkeit und die Nachkriegsgeschichte der entwurzelten Familie.
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Das Mädchen und der Tod – in Nazideutschland

Bücherstapel

(c) Schütte

Markus Zusak, Die Bücherdiebin.
Was für ein Buch! Der Ich-Erzähler ist der Tod und erzählt die Geschichte von einem Mädchen in Nazideutschland, das in Bücher vernarrt ist. Die kleine Liesel wird von der Mutter zu Pflegeeltern gebracht, erlebt auf dem Weg dorthin den Tod des kleinen Bruders und stiehlt dort ihr erstes Buch: das „Handbuch für Totengräber“. Weiterlesen