bleiben wollen, gehen müssen

Jenny Erpenbeck: Gehen, ging, gegangen.

Portrait Jenny Erpenbeck

Jenny Erpenbeck, Frankfurter Buchmesse 2012 (c) Lesekreis Wikimedia

Schon dieser Titel eines Buches, das sich mit Flucht, mit weiten Wegen und neuen Lebensphasen beschäftigt, ist genial. Und wer das Buch in die Hand genommen hat, wird sich ihm kaum mehr entziehen können. Dabei ist es ein sehr ruhiger Rhythmus, in dem der Roman beginnt: Richard, ein emeritierter Professor der Altertumskunde, fängt an, sein neues Leben zu gestalten und zu überdenken. Er lebt allein, nachdem seine Frau vor einigen Jahren starb und seine junge Geliebte ihn verlassen hat. Sein Blick gleitet über den See bei seinem Haus in Berlin – ein Mann ist hier ertrunken, wurde aber nie gefunden. Dieses und anderes Ertrinken durchzieht als Unterströmung den ganzen Roman.

Zunächst aber beschäftigt sich Richard mit der banalen Organisation des Alltags, Einkaufen, kochen, Papierkram erledigen. So entgeht ihm zunächst, dass sich auf dem Oranienplatz in Kreuzberg ein Protestcamp von Flüchtlingen befindet, dessen Bewohner um ihre Anerkennung als Asylsuchende kämpfen. Sie wollen nicht sagen, wer sie sind – ein Affront gegen deutsche Bürokratie und ihre Vollstrecker.

Richard will niemandem helfen. Er hat mit den Flüchtlingen nichts zu tun. Dennoch, fast zufällig und aus Neugier, sehr vorsichtig, nähert er sich den Männern aus verschiedenen afrikanischen Ländern. Was ist Zeit, wenn sie nur aus Warten besteht, wenn man sie nicht füllen kann mit Sinn, mit Arbeit? In der Unterkunft, in der man die Flüchtlinge untergebracht hat, ist Zeit eher eine Last. Richard nimmt Kontakt zu ihnen auf, lässt sich ihre Geschichten erzählen, versucht, sie als Individuen zu verstehen. Immer weniger kann er sich der Lebenssituation der Afrikaner, ihren Fluchtgeschichten, ihren Hoffnungen, ihrer Perspektiv- und Rechtlosigkeit entziehen. Osarobo, der Klavier spielen will, ohne je eins berührt zu haben, lässt er zu Hause darauf spielen; Ali, der Krankenpfleger werden will, vermittelt er an die pflegebedürftige Mutter einer Freundin. Er begleitet Flüchtlinge zu Ämtern, zum Anwalt und lernt den Irrsinn und die Unmenschlichkeit deutscher Rechtsprechung und Verwaltung kennen.

Jenny Erpenbeck fasst das Thema Flucht präzise, nüchtern und mit sparsamer Sprache an. Sie beobachtet den weißen Intellektuellen mit dem geregelten Leben und sicherem Einkommen ebenso ohne jedes Pathos wie die geflüchteten Männer. Aber durch die permanente Gegenüberstellung wird der Blick schärfer und die Fragen drängender: Was ist angesichts dieser Lage vernünftiges Handeln? Die Flüchtlinge wissen, was sie wollen: Bleiben und arbeiten. Richard ist hilflos, aber er hört zu und handelt.

Fragend und unsicher tastet er sich an jedes einzelne „Schicksal“, wie es so schön heißt, heran und hat nichts von mitleidigem Herunterschauen, trotz aller finanziellen und kulturellen Unterschiede und Bildungsgrade. Wer wem hilft, lässt sich schließlich immer weniger ausmachen.

Die großen Fragen nach Menschlichkeit, Gemeinschaft und Solidarität werden ohne Tränendrüse und Zeigefinger in den Raum gestellt. Die Hochachtung und der Respekt der Autorin gegenüber den Geflüchteten in jedem ihrer Sätze sind beispielhaft.

Ein trauriges, nachdenkliches, ein großartiges Buch.

Jenny Erpenbeck ist 1967 geboren. Sie hat mehrere Romane, Erzählungen und Theaterstücke geschrieben und wurde vielfach ausgezeichnet.

Das Buch ist 2015 im Knaus Verlag erschienen und hat 348 Seiten. Gibt es derzeit nur  gebunden, ist aber in der Bremer Stadtbibliothek ausleihbar.

Ein Gedanke zu „bleiben wollen, gehen müssen

  1. janni

    Liebe Christel, ich liebe deine Büchertipps. „Gehen, gingen, gegangen“ ist gerade im Einkaufskorb gelandet und wird ein Geschenk (aber ich freue mich auch schon drauf, es selber zu lesen). Toll, dass du (oder ihr) diesen Blog betreibt!
    Liebe Grüße,
    Janina

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