Ein Dorf in Israel in den 40er Jahren: Ein Junge wird geboren und erhält von seiner Mutter Judith den Namen Sejde, das bedeutet „Großvater“. „Wenn der Todesengel kommt und ein kleines Kind sieht, das Sejde heißt, merkt er sofort, dass hier ein Irrtum vorliegt, und geht woandershin“, erklärt Judith den befremdlichen Namen. Noch befremdlicher aber ist, dass der Junge drei Väter hat – leibliche Väter wohlgemerkt. Sie haben ihm vielerlei mitgegeben: Vom Bauern Mosche Rabinowitz hat er den Hof und das blonde Haar geerbt, vom Kanarienvogelzüchter Jakob Scheinfeld ein Stadthaus und die hängenden Schultern und vom Viehhändler Globermann einen Batzen Geld und die riesigen Füße. So beginnt die Geschichte, erzählt von Sejde als erwachsenem Mann, und schon werden wir in den Bann fantastischer Ereignisse gezogen. Mit wunderbarer Selbstverständlichkeit präsentiert Shalev die biologische Unmöglichkeit und das Geheimnis von Sejdes Herkunft. Er kennt „jene heißhungrigen beiden Tierchen, die Neugier und die Lust, in alten Geheimnissen herumzustöbern, die in unser aller Seele nisten“.
Eine gute Geschichte darf alles
Und nun eröffnet sich ein Bilderbuch prall voll mit Düften und Geschichten, Landleben und Natur, Lebensweisheiten und Bauernschläue. Vielfach blendet der Roman zwischen den Zeiten hin und her, aber dennoch entsteht ein Erzählfluss, der alles zusammenfügt. Ständig locken uns Figuren und Geschehnisse auf kleine Seitenpfade. Der Fortgang einer stringenten Geschichte ist auch gar nicht das Wesentliche, sondern das dörfliche Leben und sein Rhythmus, seine Tiere und Pflanzen, das Licht, und vor allem seine Bewohner mit ihren unterschiedlichen Lebensphilosophien. Natürlich stimmt das nicht ganz, denn Shalev ist auch ein raffinierter Erzähler – immerhin ist das Geheimnis um Sejdes Geburt stets präsent und bleibt bis zum Schluss spannend: Wie kann dieser Junge drei leibliche Väter haben? Welchen hat Judith geliebt, alle oder keinen? Was dabei Wahrheit und Lüge ist, hat wenig zu sagen. Eine gute Geschichte darf alles.
Drei Männer lieben Judith und wen liebt sie?
Es ist die Geschichte einer jungen Frau, die als Arbeiterin auf den Hof von Rabinowitz kommt. Vor Jahren verlor er seine Frau bei einem tragischen Unfall und braucht eine Magd, um seine beiden Kinder Oded und Naomi großzuziehen. Judith wohnt im Stall und führt den Haushalt. Sie trägt eine traurige Lebensgeschichte mit sich. Ihr erster Mann nahm ihr die kleine Tochter fort und ging ohne je zurückzukehren. Dieses Trauma begleitet Judith und hat ihr einen gepanzerten Rücken wachsen lassen, der sie mitsamt einem tauben Ohr vor der Welt schützen und ihre Geheimnisse bewahren soll. Aber die Welt lässt sich nicht aussperren und so nimmt das Geschehen seinen Lauf.
Judith ist das Zentrum des Romans, eine spröde, verschlossene und harsche Frau, der niemand zu nahe kommt, doch das hindert die drei Männer nicht daran, mit großer Hartnäckigkeit um ihre Liebe zu buhlen, jeder auf seine Weise: der gutmütige bärenstarke Rabinowitz, der ihr ein verlässliches Leben auf dem Hof ermöglicht, der derbe und doch charmante Globermann mit Geschenken und Grappa, der verrückte Scheinfeld, der seine Kanarienvögel für sie fliegen lässt. Und ihre Eifersucht und Konkurrenz hindert die drei auch nicht daran, ihren Sohn Sejde gemeinsam und mit Hingabe zu lieben, zu beschenken und sich um ihn zu sorgen.
Ein besonderes Geburtstagsgeschenk bekommt Sejde von Jakob Scheinfeld, als er zwölf Jahre alt wird: viermal und im Abstand von jeweils rund 10 Jahren wird er zu einem Festmahl bei Jakob eingeladen, als Kind, als junger Mann und als Erwachsener. Bei köstlichen Speisen erzählt ihm Jakob die Geschichte seiner Mutter und der Liebe seiner drei Väter. Bei der vierten Einladung nach Jakobs Tod kocht Sejde selbst die Gerichte nach den Rezepten, die ihm Jakob überlassen hat, und erzählt sich und uns die Geschichte zu Ende.
Ein Roman wie ein kunstvoller Teppich
Shalev ist ein genialer Erzähler und lustvoller Fabulierer, lyrisch und humorvoll zugleich. Große und kleine Ereignisse, auch die schlimmen und tragischen, werden mit Leichtigkeit, mal ausufernd, mal lakonisch, mit wunderbarem erzählerischen Geschick, ohne große Dramatik und stets liebevoll erzählt – so ist eben das Leben. Die Geschichte webt aus vielen Strängen, Nebenwegen und Schicksalen ein kunstvolles Muster zu einem Ganzen. Einiges bleibt im Ungewissen und gibt unserer Fantasie viel Raum, so zum Beispiel in Sejdes Beziehung zu Naomi.
Manches in dem Roman ist mir fremd geblieben, ich weiß zu wenig von der frühen Geschichte Israels, die immer wieder andeutungsweise in den Roman hineinspielt. Viele Ausdrücke aus dem hebräischen, aramäischen, jiddischen und arabischen streut der Autor ein, die erklärt werden – für mich eine neue Erkenntnis, wie viele Sprachen in der Region miteinander existieren. Ein Glossar sowie ein Verzeichnis der wichtigsten Personen sind eine hilfreiche Ergänzung.
Shalevs Roman ist bereits 1994 erschienen und ist noch immer ein großes Lesevergnügen. Ein wunderbares Buch, das mir noch ständig im Kopf herumgeistert. Unbedingt lesen!
Meir Shalev, geboren 1948, ist israelischer Schriftsteller und lebt in Jerusalem.
Der Roman Judiths Liebe ist im Diogenes Verlag erschienen und kostet 11,99 €. Es gibt das Buch auch in der Bremer Stadtbibliothek.