Vietnam erobert den Prenzlauer Berg

Buchcover mit Bambusbrücke vor blauem Himmel

(c) C.H.Beck Verlag

Karin Kalisa: Sungs Laden

 Ein kleiner unscheinbarer Obst- und Gemüseladen am Prenzlauer Berg in Berlin wird zum Kristallisationspunkt für eine Bewegung, die den ganzen Stadtteil erfasst. Unmöglich?! Nicht bei Karin Kalisa.

Ihre Zutaten: Eine Grundschule in Berlin, die auf Anordnung von oben eine „Woche der Verständigung“ gestalten soll – ausgerechnet in der stressigen Vorweihnachtszeit; eine vietnamesische Familie, deren Mitglieder in der ehemaligen DDR als VertragsarbeiterInnen für das „Bruderland“ gearbeitet haben und geblieben sind; eine Großmutter, die eine schmerzliche Vergangenheit mit sich trägt. Mit ihrer alten vietnamesischen Holzpuppe und ihrem kleinen Enkel Minh tritt sie unerwartet eine Entwicklung los – zuerst in der Schule, dann im ganzen Prenzlauer Berg. Denn die Puppe und die dazu gehörige herzzerreißende Geschichte aus Vietnam faszinieren bei der Präsentation alle derart, dass eine engagierte Lehrerin mit den Kindern und dem Tischler Ly Phong die Puppen nachbaut, um sie in der Schule für den Protest gegen die Raumnot einzusetzen. Was tags darauf groß in der Zeitung erscheint und den Schulamtsleiter schwer in Bedrängnis bringt. Die Puppen werden ein Verkaufsschlager, plötzlich laufen die Prenzlauer Mütter mit großen vietnamesischen Kegelhüten herum,  in den Buchläden tauchen Bücher mit vietnamesischer Lyrik auf, eine Geschichtswerkstatt entsteht, ein Standesbeamter erinnert sich plötzlich beschämt daran, wie er seinen Enkel die Fehler auf Sungs Preisschildchen  zählen ließ, sich aber zugleich nie für die korrekte Schreibweise der Namen vietnamesischer Brautpaare interessierte.

Die Autorin hat das Vor- und Nachwende-Ostberlin gut beobachtet und führt eine Menge typischer Kleingeister aus dem Stadtteil vor, gibt ihnen aber gleichzeitig die Chance, sich unkonventionell, sozial, menschlich und kreativ zu verhalten – angefangen in der DDR, wo das System sich zwar brutal gegenüber den Einwanderern verhielt, aber dennoch Einzelne den vietnamesischen Familien immer wieder solidarisch die Hand reichten, bis ins heutige Berlin, wo die „wandernde Parkraumüberwachung“ des Bezirksamts die leckeren Mangoscheiben in Sungs Laden entdeckt und sich auf dessen unvorschriftsmäßig aufgestellte Bank setzt, anstatt einen Strafzettel zu schreiben. Das schrammt zwar mehr als einmal knapp am Kitsch vorbei, kriegt aber immer wieder die Kurve, nicht zuletzt durch den Witz und die fast dreiste Leichtigkeit, mit der sich die Autorin die abenteuerlichsten Entwicklungen erlaubt, die beim Lesen viel Spaß machen – verrückt, irreal, schräg und humorvoll.

Am Ende weht die Vietkongfahne über dem Bezirksamt, Bambusbrücken schaukeln zwischen den Häusern und ein japanisches Fotografenpaar, eine vietnamesische Theatertruppe, eine Gruppe Industriekletterer sowie jede Menge HelferInnen und Mitgerissene gehen ans Werk, um ein grandioses Finale zu inszenieren. Ein Märchen durch und durch, aber ein äußerst vergnügliches und ein sehr menschliches. Kalisa regt uns an, öfter mal zu denken: So könnte es auch sein! Und warum sollen in dieser verdammt negativen und von Gemeinheiten aller Art nur so strotzenden Zeit nicht einfach mal die Guten die besseren Ideen haben – und gewinnen??

Der Roman ist 2015 erschienen im C. H. Beck Verlag, hat 250 Seiten und kostet als Taschenbuch 9,99 €, gebunden 19,95 €.

Karin Kalisa lebt seit einigen Jahren in Berlin und hat sich als Wissenschaftlerin mit asitatischen Sprachen und Ethnologie beschäftigt.