Kalmann ist 33 und lebt in Raufarhöfn, einem Nest auf Island, zu dem man „am Ende der Welt links abbiegen“ muss, wie es seine Mutter beschreibt. Sie ist die zweitwichtigste Person in seinem Leben, aber die allerwichtigste ist der Großvater, von dem Kalmann alles gelernt hat, was ihm wichtig ist: Schneehühner und Polarfüchse jagen, Grönlandhaie fangen und zu Gammelhai zu verarbeiten. Vor allem hat ihm der Großvater erklärt, dass er zwar etwas zurückgeblieben ist, aber dass das eigentlich egal ist. Er lebt inzwischen allein, kommt mit allen gut aus und macht sich über alles in der Welt so seine eigenen Gedanken. Wenn er mal gehänselt wird, dass er den IQ eines Schafs habe, beunruhigt ihn das kein bisschen: Schafe können ja gar keinen IQ-Test machen!
Archiv der Kategorie: Roman
Selbst schuld?
Anke Stelling, Schäfchen im Trockenen
Resis Lage ist prekär: Schriftstellerin ohne festes Einkommen, vier Kinder, davon zwei schwer pubertierend, der Mann Sven ebenfalls brotloser Künstler, finanziell ständig am Limit, eine gekündigte Wohnung und eine gescheiterte Freundschaft mit ihrer langjährigen Freundesclique. Sie selbst schreibt an einem Buch – genau an diesem Buch, das ich gerade lese, wie mir scheint. Ein „generationsübergreifendes Überforderungsprojekt“, das Resi und Sven sehendes Auges angezettelt haben, mit dem Resi hadert und zu dem sie dennoch steht – selbst Schuld eben. Schon der erste Teil des Buchs vermittelt den Alltag dieser Mutter, ohne sich und uns Lesenden die Entscheidung zwischen Heulen und Lachen zu erlauben, denn es ist immer beides. Abends, wenn die letzten Schulbrote mit der ungesunden Erdnussbutter geschmiert sind, wird Resi in ihrem kleinen Kabuff – die Abstellkammer, wo sonst immer die Waschmaschinen stehen – genau über den Wahnsinn des Familienlebens schreiben und sich fragen, warum sie dieses Leben führt. Weiterlesen
Zwei Künstlerbiografien
David Foenkinos, Charlotte
Hans Joachim Schädlich, Felix und Felka
Nein, eine amüsante und entspannende Lektüre versprechen die Bücher nicht, weder das eine noch das andere. Von allem Anfang ist klar, dass sie nicht gut ausgehen, auch nicht ein bisschen, ihr Ende ist Auschwitz.
Aber es gibt noch anderes, das die Bücher verbindet: Bei beiden ist die Hauptfigur ein*e Künstler*in, es handelt sich um eine Form der Künstlerbiografie. Weiterlesen
Landleben im Niedergang
Dörte Hansen, Mittagsstunde
Gerade habe ich bemerkt, dass ich zum ersten Mal von einer Autorin ein zweites Buch vorstelle. Und das ist natürlich kein Zufall. Der neue Roman von Dörte Hansen knüpft an ihr erfolgreiches Buch „Altes Land“ an – und doch wieder nicht. Wie gut sie schreiben kann, wussten wir ja bereits von ihrem ersten Roman , wo sie in wunderbar leichtem spöttischen Ton erzählt, wie alle ihr Fett wegkriegen, Städter wie Landvolk, wo die jeweiligen Mythen mit viel Witz zerstört werden. Und wo doch eine freundliche Färbung auf allem liegt. Aber wer gedacht hat, Hansen würde da einfach in Neuauflage weiter erzählen, der hat sich geirrt. Diesmal kriegen wir ein härteres Kaliber der norddeutschen Tiefebene zu spüren, wo die tröstlichen Momente ziemlich rar sind. Eine tiefe Melancholie durchweht hier das friesische Land, das von Wind und Wetter geschliffen und gebeugt wird. Und wo der Mensch selten die Hauptrolle spielt. Weiterlesen
Was macht die Nanny?
Leila Slimani, Dann schlaf auch du
„Das Baby ist tot. Wenige Sekunden haben genügt. Der Arzt hat versichert, dass es nicht leiden musste. (…..) Die Kleine dagegen war noch am Leben, als die Sanitäter kamen. Sie hatte sich gewehrt wie eine Wilde. (……) Adam ist tot. Mila wird ihren Verletzungen erliegen.“ So beginnt der Roman, und er benennt auch gleich die Täterin: Es ist die Nanny. Es ist also kein Krimi im klassischen Sinn, bei dem es um die Fahndung nach dem Täter geht. Wohl aber geht es um das Verständnis der Tat. Weiterlesen
Ein Dorf voller Witz und Menschlichkeit
Mariana Leky, Was man von hier aus sehen kann
Luise ist zehn und lebt in einem kleinen Dorf im Westerwald, wo die Menschen recht kurz angebunden sind, „weil sie das Sprechen gern schnell hinter sich bringen“. Ihre Großmutter Selma ist eine resolute und freundliche Person, aber alle paar Jahre jagt sie dem Dorf einen Riesenschrecken ein: Wenn sie von einem Okapi träumt, stirbt innerhalb von 24 Stunden oder kurz danach jemand. Wie bereits mehrmals vorgekommen. Die Handvoll Dorfbewohner sind beunruhigt, auch wenn sie eigentlich behaupten, nicht abergläubisch zu sein: Wen würde es treffen? Viele finden es an der Zeit, reinen Tisch zu machen und mit lang verschwiegenen Wahrheiten herauszurücken. Geständnisse werden formuliert, Briefe geschrieben… Weiterlesen
Im Rausch der Warenwelt
Emile Zola, Das Paradies der Damen
Was für eine Geschichte, meine Damen Leserinnen! Ich verwette mein letztes Hemd, dass ihr euch aufs Feinste amüsieren werdet. Denn wo bekommt man eine haarscharfe Kritik des Raubtierkapitalismus, eine amüsante Analyse der feinen Pariser Gesellschaft und eine zuckersüße Soap in einem?! Aber eins nach dem anderen.
Die Lage
Paris gegen Ende des 19. Jahrhunderts: Handel und Gewerbe befinden sich in einem tiefgreifenden Wandel. Der kleine Einzelhandel wird von der Konkurrenz aufstrebender großer Kaufhäuser erdrückt, die als strahlende Paläste das weibliche Publikum in seinen Bann ziehen. Weiterlesen
Die langen Schatten der Franco-Diktatur
Verena Boos, Blutorangen
Es beginnt im Jahr 2004 mit einem kurzen Kapitel, in dem Vieles im Unklaren bleibt und das uns doch in eine abgründige Geschichte hineinzieht: Ermordete werden – nach 65 Jahren – aus einer Grube geborgen, eine Frau noch ohne Namen nimmt an der Ausgrabung teil und wird zu einem anderen bedeutungsvollen Ereignis gerufen. Dann werden wir uns als LeserInnen nach und nach in eine verschlungene Geschichte hineinfinden, die über vier Generationen geht und ihren Anfang im faschistischen Spanien nimmt: im Jahr 1939, als die Rache des Franco-Regimes gnadenlos über die Reste des republikanischen Widerstands hereinbrach. Im Mittelpunkt der Geschichte steht Maite oder Maria Teresa – der Name, den ihr die Eltern gaben. Ihr Vater war sein Leben lang strammer Franco-Anhänger, Soldat und Mitglied der berüchtigten Guardia Civil, ihre Mutter Isabel, die zu ihm hält und doch ihr Leben lang ihre eigenen Geheimnisse bewahrt. Weiterlesen
Lebenslügen
Celeste Ng, Was ich euch nicht erzählte
Erzählt wird die Geschichte einer Familie in der Jetztzeit und in Rückblenden. Die Familie, das sind: James und Marylin Lee und die Kinder Nath, Lydia, Hannah. Jedes der Familienmitglieder bekommt Passagen, in denen nur es im Mittelpunkt steht. Diese Familie leidet an dem weit verbreiteten Übel: Sie sprechen nicht über die wesentlichen Dinge miteinander. Das müssen sie mühsam begreifen, als ihre Tochter und Schwester aus dem See gezogen wird, der in der Mitte der Kleinstadt liegt. „Lydia ist tot.“, heißt der erste Satz des Buches, und wir erfahren zum Schluss, wie es dazu gekommen ist. Weiterlesen
Ein Junge, seine Mutter und seine drei Väter
Ein Dorf in Israel in den 40er Jahren: Ein Junge wird geboren und erhält von seiner Mutter Judith den Namen Sejde, das bedeutet „Großvater“. „Wenn der Todesengel kommt und ein kleines Kind sieht, das Sejde heißt, merkt er sofort, dass hier ein Irrtum vorliegt, und geht woandershin“, erklärt Judith den befremdlichen Namen. Noch befremdlicher aber ist, dass der Junge drei Väter hat – leibliche Väter wohlgemerkt. Sie haben ihm vielerlei mitgegeben: Vom Bauern Mosche Rabinowitz hat er den Hof und das blonde Haar geerbt, vom Kanarienvogelzüchter Jakob Scheinfeld ein Stadthaus und die hängenden Schultern und vom Viehhändler Globermann einen Batzen Geld und die riesigen Füße. So beginnt die Geschichte, erzählt von Sejde als erwachsenem Mann, und schon werden wir in den Bann fantastischer Ereignisse gezogen. Weiterlesen