Wenn Dinge ins Erzählen kommen

Museumsbuch auf Tisch

Schön anzuschauen und zu lesen

Roland Albrecht: Museum der Unerhörten Dinge

Was hat ein Museumsbesuch in Berlin auf einem Literaturblog zu suchen? Ganz einfach: Das „Museum der unerhörten Dinge“ besteht nicht nur aus ungewöhnlichen Gegenständen, sondern aus den Geschichten, die diese Dinge erzählen und die es dort zu lesen gibt. Und die sind Literatur vom Feinsten!

Ich lernte das „Museum der unerhörten Dinge“ vor einigen Jahren bei der Kulturellen Landpartie im Wendland kennen. In dem Dorf mit dem unvergleichlichen Namen Kröte gab es einen ganzen Raum voller kleiner und kleinster Dinge und einem dazu gehörenden Text, auf dem stand, was diese Gegenstände zu erzählen hatten. Weiterlesen

Spurensuche

Buchcover mit Foto eines lachenden Mädchens

(c) Hanser Verlag

 Patrick Modiano, Dora Bruder

„Paris. Gesucht wird ein junges Mädchen, Dora Bruder, 15 Jahre, 1,55 m. ovales Gesicht, graubraune Augen, sportlicher grauer Mantel, weinroter Pullover, dunkelblauer Rock und Hut, braune sportliche Schuhe. Hinweise erbeten an Monsieur und Madame Bruder, Boulevard Ornano, Paris.“

Diese Anzeige liest Modiano im Paris-Soir vom 31.Dezemberf 1941 und forscht fast zehn Jahre lang dem Schicksal des Mädchens hinterher, dessen Spur am 18.Spetember 1942 auf einer Liste der nach Auschwitz Deportierten endet. Er hat nicht viele Daten klären können, doch haben wir eine Idee von dem “jungen Mädchen“ gewinnen können. Ihre Eltern waren arme Juden, aus Osteuropa nach Paris gezogen. Im Mai 1940 wurde Dora in das katholische Internat „Saint-Coeur-de-Marie“ geschickt, wo Mädchen aus armen Familien untergebracht waren. Im selben Jahr mussten sich die jüdischen Familien in „Judenakten“ registrieren lassen. Ihr Vater ließ sich und seine Frau registrieren, nicht aber seine Tochter. Das Internatsregister enthält einige Angaben zu Dora und auch „Entlassungsdatum und –grund; 14. Dezember 1941. Wegen Weglaufens.“ Die Umstände ihres Weglaufens hat Modiano nicht herausgefunden, ebenso wenig die Gründe für ihr zweites Weglaufen, nachdem sie noch einmal nach Hause gekommen war. Genauso ist unklar, wie sie schließlich verhaftet und ins Lager Drancy deportiert wurde, von wo sie nach Ausschwitz verbracht wurde. Weiterlesen

Vietnam erobert den Prenzlauer Berg

Buchcover mit Bambusbrücke vor blauem Himmel

(c) C.H.Beck Verlag

Karin Kalisa: Sungs Laden

 Ein kleiner unscheinbarer Obst- und Gemüseladen am Prenzlauer Berg in Berlin wird zum Kristallisationspunkt für eine Bewegung, die den ganzen Stadtteil erfasst. Unmöglich?! Nicht bei Karin Kalisa.

Ihre Zutaten: Eine Grundschule in Berlin, die auf Anordnung von oben eine „Woche der Verständigung“ gestalten soll – ausgerechnet in der stressigen Vorweihnachtszeit; eine vietnamesische Familie, deren Mitglieder in der ehemaligen DDR als VertragsarbeiterInnen für das „Bruderland“ gearbeitet haben und geblieben sind; eine Großmutter, die eine schmerzliche Vergangenheit mit sich trägt. Weiterlesen

Kein home sweet home

bjerk_auerhausBjerg, Bov: Auerhaus

Sechs junge Leute gründen eine Land-WG und ziehen zusammen in ein altes Haus in ihrem Dorf. Klingt unspektakulär, ist aber ein Gebilde voller Abgründe. Alle haben mehr oder weniger gruselige Familienverhältnisse, wollen raus aus dem Dorfmief oder sich zumindest abgrenzen: Frieder, der versucht hat, sich umzubringen, sein Freund Höppner, der den „fiesen Freund meiner Mutter“, kurz „2F2M“ , satt hat; seine Freundin Vera, die ihn gern hat, aber nicht mit ihm schlafen will; Cäcilia aus gutem ödem Hause; Harry, der seinen Eltern nicht sagen kann, dass er schwul ist; Brandstifterin Pauline, die Frieder in der Psychiatrie kennengelernt hat. Alle wissen nur, was sie nicht wollen, aber das reicht nur knapp, um das Hier und Jetzt hinzukriegen. Sie leben also gemeinsam drauflos mit dem rührenden Charme von Jugendlichen, die ihren Sack voller Ideen und Hoffnungen zusammenkippen, die klauen, kiffen, trampen, sich grundlos am Küchentisch kaputtlachen, die allen möglichen Scheiß machen, zusammenhalten und davon träumen, dass diese Schwebe nie enden soll. Weiterlesen

Familiengeschichten

 Adriana Altaras, Titos Brille. Die Geschichte meiner strapaziösen Familie

 Adriana_Altaras_Titos_BrilleTrug Marschall Tito – ja, um den handelt es sich – überhaupt eine Brille? Jedenfalls hat der Vater sie ihm repariert und Anlass für ihr Erzählen ist der Tod ihrer Eltern. Sie ist mit der Nachlassverwaltung betraut, eine Mammutaufgabe, da die Eltern seit ungefähr 40 Jahren kein Zettelchen weggeworfen haben. Für Altaras Zeit zum Sinnieren, für Wutausbrüche, für Tränen, zum Selbstmitleid und zum Aufblühen ihrer Stauballergie. Weiterlesen

Wo sind die Frauen??

Frau mit Buch vor dem Gesicht

Auf der Suche nach Frauenfiguren im Buch

Wie ist die Präsenz von Frauen in Film und Fernsehen? „Der Bechdel-Test“ prüft das mit drei einfachen Fragen:

  • gibt es mindestens zwei Rollen mit Frauen, die einen Namen haben?
  • Sprechen sie mehr al einen Satz zusammen?
  • Reden sie über etwas anderes als Männer?

Als ich Janinas Text über den „Bechdel-Test“ gelesen habe, dachte ich erst mal: na das ist heutzutage ja wohl überholt. Dauernd gibt es doch zentrale Frauenfiguren in Fim und Fernsehen, die sich nicht dauernd über Männer unterhalten! Oder…? Weiterlesen

Cabaret

Cover mit Variete-Darstellerin

(c) Hoffmann und Campe

Christopher Isherwood: Leb wohl, Berlin

Eine Silhouette von einer Frau in schwarzen Strapsen, einer Weste, Handschuhen und einem Bowler – und zwischen ihren Beinen ist das Brandenburger Tor abgebildet. Wenn Sie den Film „Cabaret“ kennen, wissen Sie, das ist Sally Bowles, dargestellt von Liza Minelli. Die literarische Vorlage des Films ist jetzt neu herausgekommen.

Christopher Isherwood hat sie geschrieben, in seinem Episodenroman „Leb wohl, Berlin“. Er ging 1929 nach Berlin, später hat er gestanden, dass ihn die sexuellen Abenteuer „mit Jungs“ reizten. Er hält den Roman zusammen: „Ich bin eine Kamera mit offenem Verschluss, ganz passiv, ich nehme auf, ich denke nicht.“ Er verdient seinen Lebensunterhalt mit Englisch-Stunden und lebt im Übrigen dürftig in einer Pension. Und da trifft er sein Personal: die Vermieterin, den Barmann, die Prostituierte, die Jodlerin in einem Varieté und natürlich Sally Bowles. Weiterlesen

Selbstbestimmt leben im Schatten von Tschernobyl

Alina Bronsky: Baba Dunjas letzte Liebe

Cover mit Birke und junger Frau

(c) Kiepenheuer & Witsch

Die Gegend um Tschernobyl ist eine „Todeszone“, in der niemand mehr wohnen soll – eigentlich. Baba Dunja sieht das anders. Die alte Frau ist in ihr Dorf Tschernowo zurückgekehrt, wohl wissend, dass sie und die Handvoll anderer Heimkehrer verstrahlt sind. Die Alternative, in der Kleinstadt Malyschi zu wohnen, kommt für sie nicht in Frage, denn „die grauen fünfstöckigen Häuser aus der Chruschtschow-Zeit haben löchrige Rohre und schimmelnde Pappwände“. In Tschernowo hingegen bewohnt Dunja wieder ihr altes Häuschen, in ihrem Garten gedeihen die Tomaten und Gurken, Himbeeren und Äpfel wie zuvor.

Sie hat alles gesehen und vor nichts mehr Angst, sagt Baba Dunja über sich in dem Monolog, den sie mit sich führt und der dieses Buch mit einer ruhigen nachdenklichen Sprache füllt. Weiterlesen

Kleinfamilie on the Road

Toews_Trautmans

Buchcover

Miriam Toews: Die fliegenden Trautmans.
Hattie ist mit Anfang 20 nach Paris geflohen, weg aus einer kanadischen Kleinstadt und weg von ihrer etwas verrückten Familie. Aber dann kommt ein Anruf ihrer kleinen Nichte Thebes, dass deren Mutter wieder einmal vom psychischen Absturz bedroht ist. Thebes´Bruder Logan ist aus der Schule geflogen – kurz: nur Hattie kann versuchen, die Lage in den Griff zu kriegen. Sie fliegt nach Hause, bringt die schwer depressive Min in eine Klinik und beschließt, mit den Kindern deren Vater Cherkis zu suchen, der schon vor Jahren abgehauen ist, weil Mins Krankheit die Beziehung ruiniert hat. Thebes ist 11 und blitzgescheit, redet ununterbrochen und hat eine blühende Fantasie. Logan ist 15 und einsilbig, zieht sich wann immer möglich in seinen Kapuzenpulli zurück oder trainiert Basketball. Diese ungleiche Dreier-Combo macht sich in einem klapprigen alten Van auf den weiten Weg nach South Dakota… Weiterlesen

Primzahlzwillinge

Cover mit Frauengesicht und Blättern

Buchcover (c) Heyne Verlag

Paolo Giordano, Die Einsamkeit der Primzahlen

„Primzahlen sind nur durch 1 und durch sich selbst teilbar. Sie haben ihren festen Platz, eingeklemmt zwischen zwei anderen, in der unendlichen Reihe natürlicher Zahlen, stehen dabei jedoch ein Stück weiter draußen. Es sind misstrauische, einsame Zahlen. Deshalb fand Mattia sie auch wunderbar ….. In einem Seminar im zweiten Semester hatte Mattia gelernt, dass einige Primzahlen noch einmal spezieller als die anderen sind. Primzahlzwillinge werden sie von Mathematikern genannt: Paare von Primzahlen, die nebeneinanderstehen oder genauer, fast nebeneinander, denn zwischen ihnen befindet sich immer noch eine gerade Zahl; die verhindert, dass sie sich tatsächlich berühren….. Für Mattia waren sie beide, Alice und er, genau dies, Primzahlzwillinge, allein und verloren, sich nahe, aber doch nicht nahe genug, um sich wirklich berühren zu können.“ Weiterlesen