Migration, also das Wegziehen von einem Ort, oftmals in ein anderes Land, „ist seit jeher ein zentrales Element der Anpassung des Menschen an Umweltbedingungen sowie gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Herausforderungen.“ Das sagt Historiker Jochen Oltmer, der an der Universität Osnabrück am Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien arbeitet. Migration gab es also schon immer. Vielleicht kann es als eine Art Fluss beschrieben werden, der stetig fließt und mal mehr, mal weniger Wasser führt. Definitiv ist Migration kein neuerliches Massenphänomen, auch wenn dies in hiesigen Debatten den Anschein haben mag. Von den Millionen von Menschen, die global unterwegs sind, migriert indes nur ein Bruchteil nach Europa oder nach Deutschland.
Warum Menschen in der Vergangenheit migriert sind, es in der Gegenwart tun und auch in Zukunft tun werden, hat ganz verschiedene Gründe. Sie können vor Krieg und Verfolgung flüchten, sich in einem anderen Land verliebt haben oder einen neuen Job ausprobieren wollen.
„Zuzug wird fast zwanghaft zum Thema gemacht, Wegzug habituell unterschlagen.“
Migration ist auch immer eine zweiseitige Angelegenheit. Je nach dem, von welcher Seite aus sie betrachtet werden, gibt es Ein- und auch Auswanderer*innen. Deutsche Medien setzen Migration oftmals mit Immigration gleich, also der Einwanderung nach Deutschland. Dominant sind aktuell die Bilder von Geflüchteten, überfüllten Asylunterkünften, Grenzzäunen oder Personen, die gegen Einwanderung demonstrieren. Politiker*innen wollen Grenzen abschotten lassen, Asylgesetzgebungen verschärfen und buhlen so um Stimmen vom rechten Rand, aber auch der Mitte.
Die andere Seite, die Auswanderung – bleiben wir einmal bei Deutschland – wird hingegen nur sehr selten fernab von Auswanderer-Sendungen auf ProSieben und VOX erwähnt. Woran liegt das? Mit Statistik lässt sich das nicht erklären, denn abgesehen von Jahren mit besonders hohen Einwanderungszahlen, hervorgerufen beispielsweise durch den Krieg in Syrien, halten sich die tatsächlichen Zahlen derjenigen Personen, die aus- und nach Deutschland einwandern – ungefähr die Waage. Will sagen: Es wandern ungefähr gleich viele Personen aus Deutschland aus, wie wieder einwandern. Adrian Daub, Professor an der Stanford University kommentiert die Sachlage etwas überspitzt mit: „Deutschland fürchtet sich vor Überfremdung, exportiert aber seit Jahrhunderten Menschen en masse.“
„Waren die Deutschen in den USA die Mexikaner des 19. Jahrhunderts, so sind sie in der Schweiz die Chinesen des 21. Jahrhunderts.“
Hunderttausende Deutsche emigrierten im 18. und 19. Jahrhundert nach Nord- und Südamerika, um dort ein besseres Leben, Arbeit oder Schutz zu finden. Viele wanderten vielleicht auch aus Abenteuerlust aus. Während der beiden Weltkriege flohen viele Deutsche vor Krieg und Verfolgung, nach dem 2. Weltkrieg versuchten außerdem viele Nazis, dort der Verfolgung durch die Justiz zu entgehen. Andere Deutsche emigrierten aufgrund der wirtschaftlichen Lage in Deutschland. Dies sind nur einige wenige Beispiele, aber ausgewandert wird noch immer. Überall auf der Welt gibt es deutsche Schulen und Kindergärten, findet man Bäckereien und Restaurants ausgewanderter Deutscher. Die US-Amerikaner*innen mit deutschen Wurzeln sind noch immer die größte Volksgruppe der USA. Heute allerdings wandern Deutsche bevorzugt in die Schweiz aus. (Über diese Einwanderer*innen sind in der Schweiz wiederum auch nicht alle erfreut.)
Deutsche Auswander*innen nennen sich selbst nur sehr selten „(E-)Migrant*innen“, denn der Begriff ist auch heutzutage oftmals negativ aufgeladen. Auch bei dem der „Auswanderung“ schwang und schwingt für viele – besonders in der Vergangenheit – eine moralische Wertung mit. Menschen würden durch den Umzug in ein anderes Land ihr Land „verraten“ (zu damaligen Zeiten) oder im Stich lassen. Das sogenannte „Brain Drain“, den Verlust von intelligenten Menschen an einen anderen Staat durch Migration, nutzt man lieber für Staaten, in denen die Intelligenz vermeintlich keine Zukunft hat – ein Bild, welches nicht unbedingt ins deutsche Selbstverständnis passt. So muss sich nicht die Frage gestellt werden, warum ausgewandert wird, was das mit einem Land macht, was für ein Land man sein möchte.
Auswanderung im Fokus
Hier soll dazu ein Gegengewicht entstehen. Während also im öffentlichen Diskurs vor allem die Einwanderung nach Deutschland thematisiert und (oftmals) Schreckensszenarien gezeichnet werden, soll hier die Auswanderung im Fokus stehen. In naher Zukunft wird hier also eine bunte Mischung aus Artikeln, Interviews und Kommentaren rund um das Thema deutsche Auswanderungskultur entstehen. Wir folgen den Spuren von deutschen Auswanderer*innen, die in anderen Ländern ja auch immer zu Einwanderer*innen werden. Es werden (individuelle) Antworten gefunden auf Fragen wie „Warum weggehen?“, „Wie ergeht es im Ankunftsland?“ und wie der Kontakt zum Geburtsland ist. Gerade Bremen und Bremerhaven gelten als die historischen Ausgangspunkte für die deutsche Auswanderung. Die Spurensuche führt also auch unweigerlich in das Museum Deutsches Auswandererhaus in Bremerhaven und wirft Schlaglichter auf diese beiden Städte selbst.
Den Anfang der Reihe „Deutsche Auswanderungskultur“ macht ein Interview mit einer gebürtigen Bremerin: Renate Hannemann wanderte vor 20 Jahren nach Island aus. Mehr dazu gibt es in Kürze hier.
Rieke Bubert
Peter meint
Sehr gutes Thema!
Vielleicht weckt die Sicht auf die andere Seite, also wie es „unseren“ Auswanderern in der Ferne erging, ein wenig neue Empathie für die Menschen, die zu uns kommen!
Antoni meint
Dieser Einstieg macht richtig gespannt auf die folgenden Texte. Ich freue mich drauf!
Joschi meint
Antoni, ich werde die kommenden Beiträge auch mit großem Interesse
lesen. Viele Grüße! Joschi