Die Diplom-Psychologin Ulrike Hauffe war mehr als 20 Jahre lang Bremer Landesfrauenbeauftragte. Als ehrenamtliche Versichertenvertreterin und stellvertretende Vorsitzende des Verwaltungsrates der BARMER setzt sie sich besonders für eine Gesundheitspolitik ein, die auf die unterschiedlichen Bedürfnisse von Frauen und Männern eingeht. Zum Internationalen Tag der Frauengesundheit am 28. Mai 2020 gab sie ein Interview auf Soziale Selbstverwaltung, in dem sie auch und gerade in Corona-Zeiten erheblichen Handlungsbedarf sieht.
Soziale Selbstverwaltung: Frau Hauffe, was läuft richtig, was läuft falsch im Umgang unserer Gesellschaft mit der Corona-Pandemie?
Das konsequente Handeln der Regierung und der Behörden, die schnelle Umorientierung des Gesundheitswesens mit seinen verschiedenen Akteuren, unter ihnen auch den Krankenkassen: Das war richtig, und das zeigen inzwischen auch die Zahlen der Neuerkrankungen. Das Problem liegt woanders. Wir haben viel zu wenig insbesondere die Frauen im Blick, deren Berufe jetzt sehr zu Recht als systemrelevant eingestuft werden und die Tag für Tag in besonderer Weise ihre Gesundheit riskieren. Wer arbeitet denn in den Pflegeberufen, wer sitzt denn im Supermarkt an der Kasse? Zum überwiegenden Teil sind es Frauen – unterbezahlt. Zu Hause wurde ihnen schon vor Corona mehr abverlangt als den Männern. Mit dem Homeschooling, mit dem Wegbrechen der Kita-Versorgung sind die Belastungen durch die unbezahlte Sorgearbeit noch gewachsen. Ganz besonders betroffen sind die anderthalb Millionen Alleinerziehenden mit minderjährigen Kindern, 90 Prozent von ihnen sind Frauen. Doch obwohl die Familien im Moment die Hauptlast zu tragen haben, gehört ausgerechnet Bundesfamilienministerin Franziska Giffey nicht mit zum Corona-Kabinett. Wer so etwas entscheidet, nimmt die Gefährdung der Gesundheit von Frauen und insbesondere von Müttern billigend in Kauf. Auch häusliche Gewalt ist in diesen Zeiten ein besonders ernstzunehmendes Thema!
Soziale Selbstverwaltung: Was müsste denn aus Ihrer Sicht passieren, um gerade Frauen besser zu schützen?
Es wird über Schutzschirme für die Luftfahrt und für die Automobilindustrie gesprochen, sogar für den Profi-Fußball wird gesorgt. Viel zu wenig sprechen wir hingegen darüber, wie man in dieser Krise die Frauen und die Familien entlasten kann. Das betrifft zuallererst die Versorgung der Kinder in den Schulen und den Kitas. Wir wissen jetzt, dass vor den Sommerferien keine systematische Versorgung mehr passiert und dass die Kinder nur für ein paar Stunden in die Schule geschickt werden. Da könnte man auch ganz anders vorgehen, denn es gibt keinerlei Belege dafür, dass Kinder in besonderer Weise das Virus übertragen. Aber darüber ist erst mit sehr viel Verspätung nachgedacht worden. Die Mütter machen es schon.
Ein zweites Feld ist die häusliche Pflege, die zu mehr als zwei Dritteln von Frauen geleistet wird. Die BARMER hat in Absprache mit dem Verwaltungsrat ein proaktives Vorgehen eingeleitet. Unsere Krankenkasse wartet nicht, bis jemand um Hilfe ruft. Wir rufen selbst systematisch bei Versicherten an, von denen wir wissen, dass sie in einer besonders prekären Situation sind. Wir fragen, ob wir irgendeine Unterstützung leisten können, und soweit es irgend möglich ist, geben wir diese Hilfe.
Soziale Selbstverwaltung: Einen Punkt sollten wir unbedingt noch ansprechen: Schwangerschaftskonflikte.
Ja, das ist ganz wichtig. Wir gehen davon aus, dass es in dieser Zeit verstärkter Häuslichkeit zu mehr Schwangerschaften kommt als vorher. Und ebenso wie vor Corona ist nicht jede Schwangerschaft gewollt. Die Beratungsstellen können zum Glück – und dafür war sehr viel Druck der Frauen nötig! – endlich Online-Beratungen durchführen. Nicht geregelt ist aber, auch die entsprechende Kostenübernahme-Bescheinigung online auszustellen. Das kann doch nicht sein! Das Saarland hat das im Sinne der Frauen für sich geregelt. Das finde ich wunderbar.
Doch wenn man dann die schwere Entscheidung für einen Abbruch getroffen hat und eine Klinik sucht, wo man ihn durchführen lassen kann, steht man vor dem nächsten Problem. Denn viele Kliniken nehmen in Corona-Zeiten keine „normalen“ Eingriffe vor. Es sind schon Frauen abgewiesen worden. Aber Schwangerschaftsabbrüche dürfen nun mal nur in einer bestimmten Zeit stattfinden! So wird die Pandemie zum Vorwand, Frauen um ihre Rechte zu bringen.
Auch in der Geburtshilfe läuft etwas schief: Ich hätte nicht gedacht, dass wir wieder darum kämpfen müssen, dass die Lebenspartner mit in den Kreißsaal dürfen, wenn eine Frau das gemeinsame Kind zur Welt bringt. Warum sollte ihnen das verwehrt werden, obwohl sie im selben Haushalt leben? Das ist absurd und hat mit Prävention gegen Corona nichts mehr zu tun.
Das Original-Interview auf soziale-selbstverwaltung.de.
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