Mit Mitte 20 entscheidet sich Renate Hannemann gegen die Festanstellung bei Mercedes und für ein Leben auf einem Bauernhof in Island. Knapp 20 Jahre später erzählt sie uns im Interview ihre Geschichte.
Renate Hannemann, mittlerweile 47 Jahre alt, kommt aus Bremen Schwachhausen und ist dort in einem „typischen Altbremer Haus“ großgeworden, hat dort auf der Straße gespielt, „wie das in Bremen so ist.“ Seit 20 Jahren wohnt sie mit ihrem Mann Arnar, ihren zwei Töchtern und rund 120 Pferden, Schafen und Kühen in Island auf dem Hof Herríðarhóll. Sie betreiben einige Ferienwohnungen und bieten u.a. im Sommer Reiterferien an. Diese sind besonders beliebt für Mutter-Tochter-Urlaube.
RB: Wann bist du das erste Mal nach Island gekommen?
Das erste Mal nach Island gekommen bin ich im Sommer 1995, da war ich fertig mit dem Studium, hab in Kassel gewohnt und eigentlich auf die Gelder einer Uni für die Promotion gewartet. Die kamen nicht und mein Doktorvater hat mir dann netterweise eine Stelle bei Mercedes besorgt. Davor hatte ich noch vier Wochen Zeit. Eine Freundin von mir wollte für ein paar Monate nach Island und hat mich bequatscht, mitzugehen.
Meine Freundin hat sich dann nach zwei Wochen den Fuß gebrochen und ist wieder zurückgeflogen. Ich wollte eigentlich woanders hin, hab da aber nie eine Antwort bekommen und wusste überhaupt nicht wohin. Über den Cousin meines Mannes, der schon sehr lange Tierarzt in Lilienthal ist, also auch gleich bei Bremen, bin ich dann hierhergekommen (Anm. d. R.: Herríðarhóll) und hab meinen Mann kennengelernt.
Es folgten gegenseitige Besuche Island-Deutschland, bis im Herbst 1996 das Angebot der Festanstellung bei Mercedes kam und eine Entscheidung getroffen werden musste.
Die Entscheidung und der Umzug
Das war furchtbar. Ich, als deutsche Beamtentochter, hatte eigentlich das Gefühl, dass ich jetzt nach dem Studium – ich hatte ne nette Wohnung, Karriere und Pferde gut untergebracht – irgendwie sortiert und erwachsen bin und es jetzt losgeht. Da passte ein Umzug nach Island überhaupt nicht rein und dann die Unsicherheit und alles… Ich hab mich dann aber trotzdem gegen Mercedes entschieden, einen Pferdeanhänger gekauft und da alle meine Sachen reingesteckt und was nicht rein passte, konnte eben nicht mit. Da stand der Pferdeanhänger dann in Rotterdam zwischen Riesencontainern und ich selbst hatte nur noch einen Koffer, alles andere war ja in dem Pferdeanhänger. Der kam erst ein bisschen später, ich hatte also ne ganze Zeit lang nur den einen Koffer bei mir. Da muss man sich halt überlegen, was so wichtig ist, wenn der Rest irgendwie auf dem Schiff untergeht oder sowas.
RB: Und der Einstieg in Island war bestimmt auch nicht leicht?
Ich fand es am Anfang sehr schwierig, vor allem mit der Sprache. In Deutschland hatte ich gerade vorher das Gefühl, irgendwie erwachsen und angekommen zu sein und dann biste hier und kannst nicht mal irgendwie bei der Post anständig Briefmarken kaufen oder am Telefon antworten. Das war schon schlimm, dass man erstmal überhaupt nichts kann und weiß.
Außerdem ist schwierig, dass die Leute dich erst ab Mitte 20 kennen, und alles was davor ist, nicht. Die Leute wissen überhaupt nicht, wie du vorher warst. Deshalb hab ich viel Kontakt zu meiner besten Freundin gehalten, die mich von früher kannte oder zu einer anderen, die mich seit Kindheit kennt. Teilweise war es auch mit der Familie von Arnar schwierig. Dazu muss man wissen, ich bin 18 Jahre jünger als er. Die dachten halt sowas wie „Oh, die bleibt dann sowieso nicht“ oder „Die nistet sich hier ein“, so nach dem Motto. Also das war nicht immer ganz leicht…
RB: Und du hattest ja eigentlich einen ganz anderen Beruf…
Genau. Vor allen Dingen war auch die Umstellung vom Bürojob auf die Landwirtschaft sehr hart. Vom deutschen normalen Stadt-Büro-Leben auf das mit der Landwirtschaft. Weil man gewohnt ist, die Sachen immer fertig zu machen. Man wächst so auf, dass man eine Sache abschließt und dann die nächste anfängt, und das ist in der Landwirtschaft überhaupt nicht möglich. Da greift alles ineinander über und man ist nie fertig.
Nach dem ersten Jahr wurde es dann besser. Ich hatte einmal den ganzen Zyklus mitgemacht und kam auch mit der Sprache ganz gut klar. Ich glaube, wenn ich vorher gewusst hätte, wie hart das erste Jahr wird, dann hätte ich mich – glaube ich – nicht getraut den Schritt zu machen, aber das weiß man ja gottseidank nicht vorher.
Die feinen Unterschiede
RB: Gibt es etwas, was du am meisten, oder was du besonders vermisst?
Am Anfang habe ich Deutschland schon sehr vermisst. Das hat sich dann aber nach einem Erlebnis gegen Ende eines Deutschlandurlaubs freitagnachmittags in einem Outlet-Center – total überfüllt und nur Konsum – etwas gelegt.
Was ich jetzt sehr genieße, wenn ich nach Deutschland komme, sind die Innenstädte. Alte Innenstädte mit Fußgängerzonen, gute italienische Eisdielen, das gibt es hier einfach nicht in der Form. Und Kirschen, frisches Obst gibt es sehr wenig.
RB: Und was schätzt du besonders an deinem Leben und Island?
Ich schätze, dass ich mich viel mehr mit meiner Arbeit identifizieren kann, gerade auch mit den Kühen und den Tieren. Da sieht man irgendwie mehr Sinn morgens aufzustehen, weil die Kühe warten, hungrig sind und ihre Milch loswerden wollen. Das ist was ganz anderes, als sich morgens schick anzuziehen und ins Büro zu Mercedes zu fahren. Wobei mir der Job bei Mercedes erstaunlicherweise wirklich auch sehr viel Spaß gemacht hat. Also es ist nicht so eine Flucht gewesen, dass ich dachte, „ich muss da weg, weil ich irgendwie keine Perspektive in Deutschland hab“, sondern es hat mir auch Spaß gemacht. Deshalb war das schon eine sehr freiwillige Entscheidung, weil irgendwie alles gut war und nicht weil ich das Gefühl hatte, ich muss was ändern in meinem Leben. Das wäre glaub ich vom Gefühl her schwieriger gewesen.
RB: Und an Island oder an den Isländern?
An den Menschen? Die sind halt einfach ein bisschen unverspannter. Die machen nicht aus allen Sachen so eine Riesenmücke. Die sind es einfach gewohnt, auch von den Witterungs- und Wetterbedingungen, die Sachen so hinzunehmen, wie sie sind. Das ist sehr angenehm. Ich mein, wenn in Deutschland mal Glatteis ist, dann wird ja total geschimpft, dass das die Schuld von der Bremer Straßenreinigungsdingens ist, dass da nicht anständig gestreut ist und das würde überhaupt nicht gehen und da müsste man jetzt fahren… Und hier ist es halt einfach so. Letzten Februar war 14 Tage – also wirklich die Hälfte des Februars – die Heide [Anm. d. R.: eine bestimmte Straße] gesperrt und man ist einfach nicht nach Reykjavik gekommen, weil der Schnee waagerecht geflogen ist. Wir hatten letzten Winter 56 Sturmtiefs, da kann man nicht fahren und das ist dann halt einfach so. Da braucht man auch nicht zu meckern. Und solche Sachen einfach hinzunehmen, das ist sehr gesund für Mensch und Tier und für das Zusammenleben einfach angenehmer.
Zwischenmenschliche Kontakte
Genauso auch mit den zwischenmenschlichen Kontakten. Ich sag immer ein bisschen überspitzt, wenn man in Deutschland jemanden treffen will, dann verabredet man sich für Samstag in acht Tagen um 15.30 Uhr und dann ist alles adrett geputzt und der Kuchen gebacken und man muss zwischen 15.25 und 15.35 Uhr da aufschlagen, damit alles gut ist. Und hier setzt man sich einfach ins Auto und fährt irgendwohin und trinkt einen Kaffee zusammen. Ich werde das nie vergessen, das war ganz am Anfang, da haben wir eine Nachbarin besucht. Sie hatte gerade eine Jeans von ihrem Mann an und irgendwie ein altes Sweatshirt, weil sie gerade die Haare gefärbt hatte und ne Plastiktüte um den Kopf und gerade da kamen wir zum Kaffee vorbei und dann haben wir einfach so einen Kaffee in dem Chaos getrunken und es war überhaupt kein Problem. Sie hat sich auch nicht dafür entschuldigt, weil es einfach völlig in Ordnung war. Man hat den Kaffee zusammen getrunken, man hat sich gesehen, man hat ein bisschen geklönt und ist dann wieder gefahren. Und keiner hat gesagt „Na wie siehts denn hier aus?“ oder sowas. Das ist sehr angenehm.
Natürlich wird auch hier mal über die Nachbarn gelästert. Aber in Deutschland wird dann erwartet, dass sich die Menschen ändern, bis sie genau in die Schublade passen, und hier können sie trotzdem so bleiben wie sie sind und zwar nicht nur im Ländlichen, wo Platz ist, sondern auch in der Stadt. Also jeder kann so’n bisschen auch seinen Spleen behalten.
Und außerdem sind die Isländer kinderfreundlicher.
RB: Inwiefern?
Die Kinder und Jugendlichen können einfach freier aufwachsen. Die sind nicht immer so diesem Stillsitzzwang unterworfen. Ihnen wird auch schon viel früher Eigenverantwortung und sowas eingeräumt. Dadurch haben sie aber auch mehr Freiheiten und das funktioniert auch ganz gut.
Zum Schluss noch ein Wort zu Bremen
Wir fahren eigentlich Ostern immer in den Urlaub, in den letzten Jahren nach Bremen und Spiekeroog. Ich genieße es total, nach Bremen zu kommen und ich finde es wichtig, dass meine Kinder einen Bezug dazu haben. Das ist total nett.
RB: Also wie nach Hause, ein anderes Zuhause, kommen …
Ja, schon.
Als nächstes in der Reihe „Deutsche Auswanderungskultur“ folgt die Geschichte einer Frau, die vor über 100 Jahren über Bremerhaven nach Amerika ausgewandert ist. Mehr dazu gibt es in Kürze hier.
Rieke Bubert
Peter Pauschert meint
Sehr aufschlussreich… vor allem die Gründe für die Auswanderung, die zwischen den Zeilen so deutlich werden…