Es gibt ein Radio und einen CD-Spieler in unseren Kreißsälen. Aber mal ehrlich, wer schleppt seine CD- Sammlung mit zur Geburt, die steht wirklich nicht mehr auf der Krankenhaus-Packliste. Das ist schon irgendwie 90er oder? Und wer möchte die Stau-Nachrichten von NDR1 hören, wenn gerade der krasseste Tag des Lebens geschieht. Was sollen die Neugeborenen von uns großen Menschen denken, wenn wir so komische Noises machen?
Musik im Kreißsaal
Okay, da ist Musik. Die Frauen tragen Ear Pods, da höre ich nur nicht so viel. Wenn das Smartphone im Flugmodus ist, damit das CTG schönschreibt, geht immer noch alles was downgeloaded wurde. Ich persönlich rate ja immer zu Hörbüchern. Bei länger dauernden Krankenhausaufenthalten hilft das wenigstens etwas über die langsam verstreichende Zeit zwischen Frühstück, Mittag, Abendbrot und alltäglicher CTG- Kontrolle hinweg. Ein Pärchen hat einmal die ganze Nacht Cornelia Funkes „Tintenherz“ gehört. Schlafen ging nicht, dösen hingegen schon. Nachts, wenn niemand mehr spazieren gehen mag, ist eine Ablenkung immer gut.
Neulich konnte ich mich mit einer Frau über Christina Aguilera unterhalten. Sie hörte und ich lenkte sie nach den Wehen wieder ab. Wir haben uns so von Pause zu Pause getragen, das ging 30 Minuten gut, dann brauchte sie ihre Luft. Die Intensität der Wehen nahm zu. Es wurde geburtig. Geburt als „Liberation“- sie hat es mehr als verdient und wunderbar gemacht.
Rocket Man
Anstrengend war die Geburt des kleinen „Rocket Man“. Sein Kopfumfang war wirklich groß. Für die Erstgebärende, die das ja auch alles zum ersten Mal macht, wirklich nicht gerade angenehm. Beim Endspurt musste sie alles aus sich herausholen, was noch irgendwie an Kräften vorhanden war. Es war heiß und stickig, der Papa auch schon ein wenig abgerockt und die Hebamme und ich sehr froh, dass da noch Kräfte verborgen waren. Dem Rocket Man merkte man die Enge des Geburtsweges und all die Strapazen erstaunlicherweise jedoch gar nicht an. Ich erzählte den Eltern, dass im Radio während des Austritts des Kopfes „Rocket Man“ lief und ich fände, dass dies wirklich gut zur Geburt passt. „Ach echt?“
Tage später hörte ich im Radio „Rocket Man“ und sang laut mit. Auch hier wieder: „Eh Lea? Das heißt nicht Rocket Man…“ Es handelte sich um The Weeknd mit „Blinding Lights“. Wie ich mich da so verhören konnte finde ich immer noch beeindruckend und spricht dafür, dass mein Gehör der erste meiner Sinne ist, der bei Belastung seinen Dienst einstellt. Anscheinend war ich zur Geburt des „Rocket Man“ auch am Ende meiner akustischen Aufnahmefähigkeit.
Die ganz persönliche Musik
Meine Erfahrungen mit Musik im Kreißsaal sind wohl noch sehr begrenzt. Ich habe noch keine Opernsängerinnen betreut und auch noch keinen Mantren oder Entspannungsgesäusel lauschen dürfen. Ich bin gespannt, wann mir diese begegnen werden und wie ich reagiere. Da ist alles noch offen.
Mein liebster Sound im Kreißsaal: Dieses „Aaarrrgh“, „Eeehem“ oder „Uuuuuuh“, welches jede Frau in ihrer eigenen Tonlage und -folge erspielt. Unverwechselbar, einzigartig und persönlich. Manchmal nach Dienstschluss stehen meine Hebamme und ich nach der Übergabe noch vor der Tür und reflektieren kurz unseren gemeinsamen Tag und dann ist es plötzlich da. Dieses Geräusch, auf das wir gewartet haben. Wie ein geheimes Zeichen. Wir wissen jetzt können wir guten Gewissens nach Hause gehen: Frau, Kind, Partner und Kollegin machen das schon. Die Melodie des Herzens erklingt, eine neue Variation, und die Welt ist um ein Menschenleben reicher.
Lea Finster
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