TW/Inhaltswarnung: Dieser Artikel könnte triggern und sehr unangenehme Gefühle hervorrufen. Die Inhaltswarnung bezieht sich auf Diskriminierung von Menschen mit Behinderung.
Zuerst ist da eine grüne Halle, durch die eine Horde Kleinkinder tobt, und ich bin eins von ihnen. Die Halle wächst. Jetzt bin ich in der Schule und wir spielen Völkerball, mit einem gelben Schaumstoffball, der mich immer wieder trifft, nicht in meinen Händen landen will. Ich träume vor mich hin, stelle mir vor, wie unser Hund Stücke daraus beißt. Der Lehrer erlaubt mir auf der Bank zu sitzen.
Im Gymnasium soll ich einen Kopfsprung machen: ich stehe am Beckenrand und kann mich nicht überwinden, mich vornüber ins Wasser zu stürzen. Ich verweigere ihn. Ähnlich ist es beim Dreimeter-Brett: Ich schaffe es einfach nicht, über dieses Ding hoch über dem Wasser zu laufen, Blau und Weiß verschwimmen vor meinen Augen. Der Lehrer steht unten, mit Block und Stift in der Hand. Schließlich springe ich. Nicht vom Brett, sondern von dem Betonabsatz daneben. Der Lehrer machte eine Notiz auf dem Blatt und schüttelt den Kopf. Ich bekomme eine schlechte Note und beginne, mich vor Sport zu fürchten.
Erst sind da die Bälle, die ich nicht fange, dann die Sprünge, die ich nicht schaffe. Dann bin ich auch bei anderen Sportarten ungelenkig. Nichts will mir gelingen. Ich habe das Gefühl, dass ich mich in Zeitlupe bewege, während sich die anderen um mich herum flink und glücklich verrenken. Je mehr ich mich bemühe, desto langsamer werde ich.
Bälle bleiben die größten Feinde. Bei Mannschaftswahlen bin ich unbeliebt. Der Abstand zwischen mir und meinen Mitschüler*innen wird über die Zeit größer. Nur einmal gelingt mir, einem Wunder gleich, ein Lauf im Basketball, ich treffe den Korb wie ein Star. Deswegen, sagt der Lehrer, sollten die anderen mich unbedingt für die Mannschaft beim Wettkampf auswählen. Sie wählen mich, und mein Herz rast, während ich den Ball vor mir hertreibe und er mir entgleitet.
Dann tritt die erste weibliche Lehrkraft für das Fach in mein Leben, und unterrichtet Tanzen. Kurz habe ich Hoffnung, dass es jetzt besser wird. Aber sie verlangt von uns ein künstliches Lächeln nach jedem Sprung und schickt uns über mehrere Runden auf Zehenspitzen durch die Halle. Am Ende der Stunde kommt sie zu mir in die Umkleide. Ich muss mich vor sie hinstellen, sie begutachtet meine Haltung, geht um mich herum, sagt, dass meine Schulter schief hängt, auch wenn ich ganz gerade stehe. Das kann man nichts machen, sagt sie, und lacht verlegen, den Spott in ihren Mundwinkeln kann sie nicht verbergen.
Nach ihr haben wir einen Lehrer, der auch Bio unterrichtet. Wir spielen Badminton und ich kann den Ball nicht sehen. So schlimm war es noch nie. Ich schlage und schlage ins Leere. Der Lehrer überlegt und erklärt, warum der Badmintonball, biologisch bedingt, für mich absolut unsichtbar ist. Endlich verstehe ich es besser, bekomme aber am Ende trotzdem eine schlechte Note.
So reihen sich die Erinnerungen aneinander. Meiner Mutter erzähle ich Vieles nicht, ich komme gar nicht darauf. Sie unterstützt mich, wo sie kann. In der Oberstufe hole ich mir Krankschreibungen. Die Ärzt*innen nehmen über die ganze Schulzeit alles hin. Zu Hause mache ich Yoga mit meiner Mutter, wir gehen schwimmen, fahren Fahrrad. Nachts tanze ich in meinem Zimmer zu alten Schallplatten. Aber es will keine Kraft in mir aufkommen. Beim Tanzen kommt die Kraftlosigkeit zurück, sobald andere dabei sind.
Es gibt auch ein Erfolgsmoment: Einen Lehrpraktikant, der sich etwas für mich überlegt und mir einen Ballwurf beibringt. Es gelingt: der Ball landet genau da, wo er hinsoll. Es wird in dieser Stunde nicht von mir verlangt, ihn zu fangen oder zu treffen, und ich gehe mit einem ganz anderen Gefühl nach Hause als sonst. Vielleicht ist das ein Anfang von dem, was ich später entdecke: die Freude an Bewegung. Ein Verhältnis zu meinem Körper, bei dem ich merke, dass Bewegung etwas zurückgibt, Kraft erzeugt, in mir, um mich noch mehr zu bewegen.
Wenn ich heute daran denke, ist da inzwischen viel Wut auf das Sozial- und Schulsystem der 1990er und Nuller Jahre. Ich hatte eine Behinderung, keine*r wusste, damit umzugehen. Erst viel später habe ich begriffen, wie entmutigend der Umgang der Lehrer*innen mit mir war, wie belastend die jahrelange Angst vor jeder Sportstunde. Es hätte keine Bewertung meines Körper geben dürfen. Ich hätte Unterstützung gebraucht. Und ich vermute, ganz generell, dass ich nicht die einzige Person an unserer Schule war, die unter den Strukturen und Methoden litt. Nur gab es keine Räume, um darüber zu sprechen.
Kurz nach dem Abi las ich zufällig, dass ich auf Kopfsprünge besser verzichten sollte. Mein Instinkt damals war also richtig gewesen. Als Erwachsene habe ich herausgefunden, dass ich mich auf mein Körpergefühl verlassen kann und dass ich gerne Sport treibe, dass es zu meiner Persönlichkeit gehört.
Heute kann ich gesundheitlich bedingt nur noch sehr wenig Sport machen. Das war der Lauf der Dinge. Aber da ist etwas in mir, das mir hilft: Ich kenne meinen Körper besser, und habe ein intuitives Bedürfnis, ihn in Bewegung zu setzen, wo immer es ihm gut tut. Das ist Sport für mich heute.
Laura Müller-Hennig
Lia meint
Danke für deinen tollen und offenen Beitrag!
Es sollte freie Wahl beim Schulsport gelten und eine Anpassung und ein Verständnis für unterschiedliche Bedingungen unter denen dieser erfolgt. Sport sollte Freude bereiten. Untersützung und Wertschätzung für jede Person unter ihren Bedingungen und Wünschen sollte im Vordergrund stehen.
Es freut mich sehr, dass du Freude an der Bewegung gefunden hast und eine für dich gültige Definition von Sport gefunden hast. Denn Bewegung usw. sind sehr individuell. Dein Text macht Mut den eigenen Weg zu finden.