„Wir waren mehr als nur Ich, wir waren Wir. Wir waren Wir, obwohl wir uns Einzigartigkeit wünschten.“
1942 wurde in den USA das Manhattan Project ins Leben gerufen, das dazu dienen sollte, eine Atombombe zu entwickeln. Zu diesem Zweck wurde die Site Y errichtet, ein riesiger Laborkomplex in der Nähe von Los Alamos, New Mexico. Die Forschenden, vor allem Männer, lebten ab 1943 im schnell aus dem Boden gestampften Los Alamos, zusammen mit ihren Frauen und Kindern. Die Frauen gaben ihr gewohntes Leben auf, ihr soziales Umfeld und ihre Arbeit, um ihren Männern in die karge Wüste New Mexicos zu folgen. Außer den engsten Familienangehörigen und einigen Haushaltshilfen aus den umliegenden Dörfern hatte niemand Zutritt zu dem Ort, wer verreisen wollte, musste einen Antrag stellen.
Trotz aller Unbequemlichkeiten, mangelhafter Wasserversorgung und frustrierender Lebensmittelrationierung erleben die Frauen ihr neues, beinahe surreales Umfeld zunächst wie ein Ferienlager. Sie nennen die Stadt ihr Shangri-La, sind erleichtert, dass sie nicht mehr den steifen Universitätsdirektor zum Abendessen einladen müssen, feiern ausgelassene Partys und freuen sich über die Sicherheit, welche die abgeriegelte Stadt ihren Kindern bietet.
Doch über all dem hängt ein Schatten der Ungewissheit. Ihre Männer dürfen nicht verraten, woran sie im Labor arbeiten. Einige wissen mehr als andere, hin und wieder verplappert sich jemand, aber Gewissheit hat keine der Frauen, nicht einmal diejenigen unter ihnen, die in der Verwaltung arbeiten. Die Männer arbeiten an „The Gadget“, so nennen sie das Projekt und mehr verraten sie nicht. Erst als einige der Männer immer öfter angespannt und nervös oder gar nicht von der Arbeit kommen, beginnen die Frauen zu ahnen, dass hinter den hohen Mauern große Gefahr droht. Einige von ihnen werden sich später fragen, ob sie nicht mehr gewusst haben, als sie sich selbst gegenüber zugeben wollten.
Die Explosion von Trinity, die Generalprobe für Hiroshima, sehen sie kichernd und angetrunken von einer Veranda aus. Was sie gesehen haben, begreifen sie wenige Wochen später, als die Bilder aus Japan ihre Fernsehbildschirme erreichen. Mit dem Atombombenabwurf beginnt der Riss in der Sommercamp-Gemeinschaft. Aus Shangri-La wird „Lost Almost“, „Alas“. Die Frauen sind froh, als das Projekt beendet wird und sie zurückkehren können in die Städte, die sie vorher kannten oder wenigstens in irgendeine normale Stadt, die sie ohne Passierschein betreten können. Nur wenige bleiben.
Nesbit erzählt den gesamten Roman im Plural. Es spricht nie eine Frau für sich allein, es ist immer die Gemeinschaft der Frauen, die in Los Alamos leben. Tatsächlich haben sie viel gemeinsam, es trennt sie aber auch vieles. Angefangen bei der Frage, zu welchem Anlass Seidenhandschuhe angemessen sind, bis zur moralischen Haltung zu Atomwaffen. Dadurch wird die Gemeinschaft betont, die erzwungenen Verbindungen und auch, wie das „Außen“ zunehmend an Bedeutung verliert und die Frauen in Los Alamos die neuen besten Freundinnen werden. Konflikte und Reibungen, aber auch Freundschaften und Allianzen werden deutlich in der Gegenüberstellung der verschiedenen Frauen, ohne dass diese offen ausgesprochen werden müssen. Sie alle fangen bei Null an, es gibt kein soziales Gefüge, an das sie sich anpassen müssen, sie selbst bauen alles auf. Sie werden ein wir, eine eingeschworene Gemeinschaft, obwohl sie eigentlich so unterschiedlich sind.
Der Roman lebt vor allem vom Kontrast zwischen den beiden Welten, der forschenden Gemeinschaft im Laboratorium und der etwas aus der Welt gefallenen Gruppe von Frauen, die nicht so richtig wissen, warum es ausgerechnet New Mexico sein musste, die dort niemals richtig heimisch werden und es immer nur als eine Zwischenstation begreifen. Die Erzählperspektive, die Nesbit gewählt hat, lässt einen von einer Frau zur nächsten, von einer Küche in die andere springen. Man erfährt nicht, wer die Mutter des Mädchens ist, das sich, versteckt in einem Kofferraum, aus der Stadt schleicht und man erfährt nicht, wessen Bruder in den letzten Kriegstagen gefallen ist. Welche von ihnen ihren Mann für einen Mörder hält und welche stolz ist. Es scheint nicht relevant zu sein, in diesem Leben, in dem alles vorherige egal ist und die Zukunft völlig unklar ist. Es ist eine von ihnen, es ist jede von ihnen, es sind wir.
TaraShea Nesbit: Was wir nicht wussten. Übersetzt von Barbara Schaden. DuMont 2016. 252 Seiten, € 9,99. Deutsche Erstausgabe: DuMont 2014. Originalausgabe: The Wives of Los Alamos. Bloomsbury 2014.
Das Zitat stammt von S. 143 der deutschen TB-Ausgabe.
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