Nadia Shehadeh sagt mit ihrem Debüt „Anti Girlboss – Den Kapitalismus vom Sofa aus bekämpfen“ patriarchalen und kapitalistischen Strukturen unserer Gesellschaft den Kampf an. 1980 geboren, wuchs Shehadeh gemeinsam mit vier Geschwistern in Bielefeld auf. Nach dem Abitur studierte sie Soziologie und arbeitet bis heute als Soziologin. Sie ist zudem als Kolumnistin tätig, schreibt für das Missy Magazine und Neues Deutschland. Auf ihrem Blog berichtet Shehadeh über popkulturelle Themen und prangert gesellschaftliche Ungerechtigkeiten an. „Anti-Girlboss“ ist im Februar 2023 im Ullstein Verlag erschienen.
Was ist überhaupt ein Girlboss?
Die US-amerikanische Unternehmerin Sophia Amoruso machte den Begriff Girlboss 2014 durch das Erscheinen ihres gleichnamigen Romans populär. 2017 erschien die Netflix-Serie „Girlboss“. Girlboss bezeichnet eine Frau, die karriereorientiert ist und sich in einer männerdominierten Arbeitswelt durchgesetzt hat. Meist bekleiden Girlbosse Führungspositionen. Besonders in den sozialen Medien wird das Girlboss-Sein zelebriert und als revolutionär gehandelt. Girlbosse sind ehrgeizig. Sie gehen leichtfüßig durchs Leben, fristen ein makelloses Dasein und Stress ist für sie ein Fremdwort. Sie verkörpern das Idealbild erfolgreicher Frauen. Wo liegt also das Problem? Girlbosse verfestigen das patriarchale Narrativ, anstatt es aufzulösen. Sie profitieren von den ungerechten Machstrukturen und haben daher wenig Interesse, dieses System abzuschaffen. Ähnlich wie der Begriff Powerfrau, ist auch der Begriff Girlboss sexistisch. Habt ihr schon einmal von einem Powermann oder einem Boyboss gehört? Vermutlich nicht. Des Weiteren bezieht die Idee von Girlbossen die Annahme mit ein, dass jede*r, die*der es will, es auch schaffen kann. Dies ist problematisch, weil es schlichtweg nicht stimmt. In unserer Gesellschaft herrscht keine Chancengleichheit. Nadia Shehadeh bringt die Denkweise von Girlboss-Verfechter*innen auf den Punkt: Es ist „ultimatives Selbstinteresse“, das Girlbosse antreibt (Shehadeh 2023: 157). Zusammenhalt unter Frauen und Berücksichtigung anderer, marginalisierter Menschen spielen eine untergeordnete Rolle.
Anti-Girlboss, oder auch: Girlloser
Shehadeh schreibt in ihrem Buch über die Wichtigkeit des Aufbegehrens gegen das toxische Frauenbild, das Girlbosse proklamieren. Mittlerweile hat sich in den sozialen Medien eine Gegenbewegung unter dem Motto „Gaslight, Gatekeep, Girlbosse“ formiert. Diese prangert die Problematik hinter dem Phänomen Girlboss an. Als Gegenentwurf zum Girlboss präsentiert Shehadeh den Girlloser. Girlloser entziehen sich gesellschaftlichen Ansprüchen, sind besonnen und selbstsicher. Den Begriff prägte die Bloggerin Gabrielle Moss 2021 in ihrem Artikel „The Girlboss Era is Over“. In der Popkultur gibt es aber wenige positive Girlloser-Vorbilder, sondern eher negative Beispiele. Entweder sie sind unglücklich verliebt und sehnen sich nach der großen Liebe oder sie streben beruflichen Erfolg und Selbstverwirklichung an, sind aber eher unscheinbare Charaktere. Allesamt sind sie mit ihrer aktuellen Situation unzufrieden und glauben, in einem Mann ihr Glück zu finden. Männliche Verlierer finden sich dagegen zuhauf in US-amerikanischen Filmen. Das sind unreife, aber gütige Kindsköpfe mit einem Hang zu Chaos und Kiffen. Das Pendant in diesen Filmen stellen karrierebewusste und penibel organisierte Frauen, die an ihnen Gefallen finden und sie bemuttern. Die Darstellung von Girllosern in Film und Serien fällt also wesentlich negativer und einfältiger aus.
„Rest Revolution“
Shehadeh präsentiert in „Anti-Girlboss“ ihren eigenen Lebensentwurf und plädiert für mehr Ruhe und Gelassenheit. Prokrastination („Aufschieberitis“) habe durchaus ihr Gutes, solange „keine*r stirbt und du nicht im Gefängnis landest, kann es so schlimm nicht sein“ (Shehadeh 2023: 10). Sie setzt sich zum Ziel, sich nicht mehr für Faulheit zu schämen. Insbesondere Frauen stünden unter permanenter Anspruchshaltung: Sei es der eigene Anspruch an sich selbst, vor dem*der Partner*in zu brillieren oder bei der Arbeit einen guten Eindruck zu hinterlassen. Damit solle jetzt Schluss sein. Ganz so einfach sei es dann aber doch nicht. Faulsein sei ein Privileg, welches viele Frauen nicht haben. Die meisten würden gerne mal den ganzen Tag auf dem Sofa mit Nichtstun verbringen. Da Frauen aber immer noch den Großteil der Care-Arbeit übernehmen und parallel ihrer Lohnarbeit nachgehen, könnten sie es sich kaum leisten. Hier klopften wieder Kapitalismus und Patriarchat an die Tür. In unserem auf Leistung basierten gesellschaftlichen und wirtschaftlichen System bliebe dieser Gedanke oft eine Utopie. Trotzdem heißt das Ziel der Autorin „Nichtproduktivität […] kultivieren“ (Shehadeh 2023: 56). Dies könne schon im kleinen, zu Hause stattfinden. Nichts anderes sei es, wenn Gewerkschaften Arbeiter*innen zum Streik aufrufen: Leistungsverweigerung als politischer Akt. Shehadeh zitiert in ihrem Buch die afroamerikanische Autorin Tricia Hersey. Diese hat mit dem Leitspruch „Rest is Resistance“ Ausruhen als effektive Protestform deklariert. Ausruhen sei einfach in den Alltag zu integrieren und trete der Hustle-Culture entschieden entgegen. Hustle-Culture beschreibt die gesellschaftliche Haltung, über die körperlich oder mentale Belastungsgrenze hinaus zu arbeiten. Dies kann zu chronischer Überlastung und Burnout führen. Hersey zufolge transportiert Hustle-Culture zudem rassistische Denkmuster, da sie schon früher „die Arbeitskultur weißer Vorherrschaft“ war (Shehadeh 2023: 185). Auch prominente Sportlerinnen wie Simone Biles und Naomi Osaka seien Teil der „Rest Revolution“, indem sie bereits im jungen Alter dem Ehrgeiz-durchtriebenen Leistungssport den Rücken kehren.
Mit Solidarität zu mehr Gelassenheit
In unserer neoliberalen Gesellschaft gibt Perfektionismus den Ton an. Das verschlechtert unser Selbstwertgefühl, da die Gesellschaft uns vermittelt, wir seien nie gut genug. Shehadeh nennt einen wichtigen Faktor, mit dem wir diese Strukturen bekämpfen können: Solidarität. Solidarität stärkt unsere natürliche Selbstwahrnehmung und hilft, soziale Beziehungen einzugehen. Ein Mangel an solidarischem Verhalten führt zu Missgunst und einem ungesunden Miteinander. Das Girlboss-Ideal ist für Shehadeh „keine Frage des realen Erfolgs […], sondern klare Haltungssache“ (Shehadeh 2023: 165). Trotz Wohlstand und Reichtum kann man sich kritisch mit seinen Privilegien auseinandersetzen. Dennoch treten Girlboss-Attitüde und unsolidarisches Verhalten oft zusammen auf.
Zum Abschluss des Buches gibt Shehadeh den Leser*innen die drei wichtigsten Grundsätze des Anti-Girlboss-Mindsets mit auf den Weg. So kann jede*r zum Anti-Girlboss werden:
Kein Job der Welt wird euch jemals lieben.
Perfekte Produktivität ist ein Mythos, den man uns vorgaukelt, damit wir unsere Grenzen immer weiter ausreizen und überschreiten.
Rest is Revolution. Sich auszuruhen ist ein widerständiger Akt.
(Shehadeh 2023: 208)
Klare Lese-Empfehlung!
Ich empfehle „Anti-Girlboss“ allen, die eine Auszeit von ihrem hektischen Alltag suchen. Nadia Shehadeh schafft einen Raum zum Eintauchen in eine Gesellschaft, abseits von Leistung und Perfektionismus. Sie lässt uns von einer zufriedeneren und solidarischeren Welt träumen. Das Buch ist außerdem eine fundierte Kampfansage an Patriarchat und Kapitalismus und bietet eine nachvollziehbare Argumentation gegen Hustle-Culture. Es ist eine Ode an das Einfach-mal-gut-sein-lassen. Private Einblicke in Shehadeh’s Kindheit und Arbeitsleben ergänzen die Sachlichkeit des Buches. „Anti-Girlboss – Den Kapitalismus vom Sofa aus bekämpfen“ lässt sich wunderbar auf der Couch im Pyjama mit einer Tasse Tee lesen.
Jana Keller
Schreibe einen Kommentar