Es gibt gute Neuigkeiten für alle kunstinteressierten Bremer*innen, Urlauber*innen und Tagesbesucher*innen der Hansestadt: Die Weserburg, Bremens Museum für moderne Kunst, hat zum 04. Juni 2022 wieder eine neue Ausstellung eröffnet.
Diese Ausstellung belebt auf rund 1.000 Quadratmetern während der Sommermonate die sonst eher kahlen und nach dem White-Cube-Prinzip rohbelassenen Wände des Gebäudes. Rote Pinselstriche laden dort verspielt dazu ein, ihnen über große blanke Blätter hinweg zu folgen und in Silvia Bächlis erste umfängliche Einzelpräsentation einzutauchen. „Lange Linien lang“ hat ihre Schöpferin sie getauft. Gleich doppelt wird mit diesem Titel betont: Die Linien, die im Zentrum ihrer Werke stehen, sind nicht bloß lang, sondern wirklich lang! Das hat Gründe – denn Bächlis Ausstellung beschäftigt sich mit Atmosphären und Rhythmen, Kompositionen und Intuition.
Vergessene Künstlerinnen
Die Weserburg ist in Bremen ein beliebter Ort zum Staunen, was die internationale Kunst der Gegenwart zu bieten hat. Als erstes Sammelmuseum Europas und Zentrum für Künstlerpublikationen bildet die Weserburg nicht nur einen Ausstellungsort für zeitgenössische Kunst, sondern möchte außerdem den Funktionen Forschungsinstitut und Archiv gerecht werden. Wandert man durch Letzteres, muss man bedauerlicherweise feststellen, dass die Unterrepräsentation von FLINTA*-Personen auch die Historie der Kunst berührt. Und das, obwohl Fähigkeiten wie Kreativität und Fingerfertigkeit eher weiblich gelesenen Menschen nachgesagt werden, als männlich gelesenen. Da fällt es doch irgendwie schwer, zu glauben, dass Kunst bislang überwiegend Männersache gewesen sei… Trotzdem sind auch in den Einzelausstellungen der Weserburg nur vereinzelt die Namen von FLINTA*-Personen auffindbar. Löblicherweise ist der Trend aber steigend. Silvia Bächli hat es jedenfalls geschafft und durfte mit ihren künstlerischen Arbeiten das oberste Geschoss des Museums bestücken. Ich hatte das Glück, diese Ausstellung schon vor der offiziellen Eröffnung im Presserundgang zu beschnuppern, sowie die Kuratorin Janneke de Vries und die Künstlerin höchstpersönlich kennenzulernen.
Silvia Bächli
Bereits seit 40 Jahren wird Silvia Bächli (*1956 in Baden, lebt in Basel) für ihre Kunstwerke gefeiert. Öffentlich bezeichnet man sie als eine der wichtigsten zeichnerischen Positionen ihrer Generation. Und auch international hat sie sich einen Namen gemacht: Bislang haben sich verschiedene renommierte Häuser für Gegenwartskunst um ihre Werke gerissen. Das Centre Pompidou in Paris, das Museu Serravales in Porto und das Mamco in Genf sind beispielsweise bereits in den Genuss gekommen, sich mit Bächlis Kunst zu schmücken. Nun ist die Weserburg an der Reihe.
„Die weiße Wand, diese Pause hilft der Vorstellungskraft, das Angedeutete weiterzudenken.“
(Silvia Bächli, Ausstellungsbroschüre)
Lange Linien lang vereint Arbeiten der letzten fünfzehn Jahre mit einer frisch entstandenen Werkegruppe aus Zeichnungen, Skulpturen und einigen Künstlerbuchprojekten. Diese Mischung macht es spannend. Spannend ist es aber nicht nur aktuell im Ausstellungsraum, spannend war es für Silvia Bächli bereits während des Entstehungsprozesses der Arbeiten. Monatelang experimentierte die Künstlerin in ihrem Atelier. Besonders die Auswahl und die Hängung ihrer Werke forderte vor Ausstellungsbeginn Bächlis volle Aufmerksamkeit ein.
„Immer wieder fügt sie Gruppen zusammen, wägt ab zwischen Einzelhängung und Serie, legt Abstände zwischen den Blättern und Bildhöhen exakt fest. Das Ergebnis ist eine Inszenierung, in der der Raum zwischen den Werken genauso wichtig ist wie die Zeichnungen selbst.“ (Zitat aus der Pressemitteilung der Weserburg zu Silvia Bächli)
Loslassen und Einfühlen
Neben Bächlis Zeichnungen sind in der Weserburg auch ein paar Collagen der Künstlerin ausgestellt, die sie aus Zeitungsbildern gebastelt hat. Hierbei wird es besonders spannend mit der Komposition. Denn die ausgewählten Bildausschnitte werden so wieder miteinander zusammengefügt, dass sich völlig neue Gesamtbilder ergeben. Nicht bloß das Auge der Betrachtenden ist dabei also gefordert, auch unsere intuitiven Gedankenprozesse werden angespielt. Denn es scheint, als versucht unser Gehirn ganz automatisch immer dort, wo ihm ein Teil des Gesamtbildes verwehrt wird, die Lücken zu ergänzen, Zusammenhänge zu suchen oder notfalls selbst welche zu stricken. Die Neubildungen, die dabei herauskommen, findet Silvia Bächli besonders spannend, berichtet sie auf dem Presserundgang. In Bächlis malerischen Ausstellungswerken finden sich überwiegend Pastellfarben wieder. Gearbeitet wird vor allem mit Tusche, Pastellkreide oder Gouache. Sie färben Materialien wie Stein und Papier. Die Zeichnungen werden dem Titel gerecht: Hier ist das Kernelement die Linie. Manchmal wird sie lang und breit, bildet Flächen, in denen sie bei genauerem Hinschauen jedoch immer noch klar als Linie erkennbar bleibt. Nicht selten bleiben die verwendeten Untergründe dabei an einzelnen Stellen naturbelassen und werden so von Bächli in das Gesamtbild integriert. Dadurch entstehen Spannungen, die spielerisch und provokant zum Nachdenken anregen, vielleicht aber auch zum Loslassen und Nachfühlen. Wir dürfen uns hineinfühlen in die Atmosphären, die die Werke in ihrer einzigartigen Komposition erschaffen, und dabei unsere eigene Intuition anspielen.
Intuition & Rhythmus
Intuition spielt generell eine wesentliche Rolle in Silvia Bächlis Arbeiten. Zwar ist die Künstlerin durchaus für ihr genaues und sensibles Auge bekannt, mit dem sie ihr Umfeld wahrnimmt. Dennoch versucht ihre zeichnerische Umsetzung nicht etwa das Gesehene intellektuell zu erfassen, um es anschließend zeichnerisch abzutasten. Stattdessen arbeitet Bächli, sobald sie ihr Papier füllt, intuitiv und möglichst direkt. Das spiegelt sich in ihren Werken wieder, die spontan und individuell wirken. Außerdem entsteht hierdurch eine Eigendynamik innerhalb ihrer Linienführung, ein Rhythmus. Und der scheint für Silvia Bächli besonderen Stellenwert zu haben. Das zeigt sich in Bächlis Ausdrucksweise, als sie ihre Zeichnungen metaphorisch mit Tönen vergleicht, die sie als Komponistin in eine Form bringt, um ein Gesamtstück zu erschaffen. Die Besucher*innen seien in diesem Kontext wie Musiker*innen eines Orchesters zu verstehen, die das Lied interpretierend aufnehmen.
„Besucher*innenrezeptionen werden ausdrücklich von Beginn an mitgedacht und präzise einbezogen.“ (Zitat aus der Pressemitteilung der Weserburg zu Silvia Bächli).
Die Betrachter*innen werden damit zu einem wesentlichen Teil der Ausstellung Silvia Bächlis und sind dementsprechend herzlich eingeladen bis zum 9. Oktober die Weserburg unsicher zu machen und sich ein eigenes Bild von Bächlis Kunst zu machen. Wir wünschen viel Spaß dabei!
Neugierig geworden? Silvia Bächlis Ausstellung „Lange Linien lang“ ist vom 04.06.2022 – 09.10.2022 in der Weserburg zu sehen.
Für weitere Infos hier klicken.
Imke
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