Was ist Lebenswert und wer bestimmt zu welcher Zeit darüber? Welche oder wessen Leben sind es wert gelebt zu werden? Die Ausstellung erfasst, verfolgt, vernichtet. Kranke und behinderte Menschen im Nationalsozialismus in der Unteren Rathaushalle widmet sich diesen Fragen und erzählt Geschichten von Ausgrenzung, Zwangssterilisationen und Massenmord während des Nationalsozialismus. Gleichzeitig wird die Frage nach dem Wert des Lebens heute neu gestellt und Kontinuitäten des Nationalsozialismus bis heute aufgezeigt.
Euthanasie, Sterilisation und die „Rassenhygiene“
Im Rahmen dieser Ausstellung hielt Magret Hamm von AG Bund der „Euthanasie“-Geschädigten und Zwangssterilisierten am 16.08.2016 in der Stadtbibliothek Bremen den Vortrag „Zwangssterilisierte und „Euthanasie“-Geschädigte zwischen Stigmatisierung und Ausgrenzung im NS und in der Bundesrepublik“. In der Krimibibliothek versammelten sich ca. 40 Personen und hörten interessiert zu. Margret Hamm gab zunächst Einblicke in die Entstehungsgeschichte von Begriffen wie „Eugenik“ und „Rassenhygiene“, die Ende des 19. Jahrhunderts im Kontext des sogenannten Sozialdarwinismus aufkamen. Der Arzt Alfred Ploetz wirkte hier prägend und bezeichnete „unwertes Leben zu pflegen“ als einen Luxus, den die Gesellschaft sich nicht leisten könne.
„Bis zu 400.000 Menschen wurden ab 1934 gegen ihren Willen sterilisiert, mehr als 200.000 Menschen aus Heil- und Pflegeanstalten ermordet.“
Im Nationalsozialismus wurden diese Gedanken in die nationalsozialistische Ideologie und somit in die Politik übernommen und hatten weitreichende Konsequenzen. Kranke oder behinderte Menschen wurden als Gefahr für die „Reinhaltung der Rasse“ verstanden und im großen Stil zwangssterilisiert, in psychiatrische Anstalten eingewiesen und ermordet im Rahmen der so genannten Euthanasie, griechisch für „schöner Tod“. Auch nicht-erkrankte Menschen, insbesondere Frauen, konnten mit dem Attribut „hysterisch“ versehen und in Nervenheilanstalten eingewiesen werden. Viele kamen aus diesen nicht zurück. Festzuhalten sei hier – anders als aus dem Publikum angemerkt – dass dies einer der Bestandteile der NS- Ideologie war und nicht (nur) ärztliches Handeln nach damaligen wissenschaftlichen Standards.
Kontinuitäten nach 1945
Auch nach 1945 wurden die Opfer und ihre Angehörigen weiter stigmatisiert. Gesetze des NS wurden teils einfach übernommen, lediglich Bayern und Bundesländer der späteren DDR schafften das 1933 erlassene Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses noch 1945 ab. In Bremen überlegte man sogar bis 1947, ob man das Gesetz nicht doch noch einmal brauchen könne. Am Beispiel eines 1961 tagenden beratenden Parlaments-Ausschusses zeigte Magret Hamm weitere Kontinuitäten auf. Der Ausschuss sollte über Entschädigungsforderungen von Geschädigten entscheiden. Drei der sieben Experten waren allerdings auch schon im NS als Ärzte tätig gewesen. Der Ausschuss entschied gegen mögliche Entschädigungszahlungen und auch dagegen, die betroffenen Personen als Opfer Nationalsozialismus-Unrechts anzuerkennen.
Die Stigmatisierung ging also auch in der BRD weiter. Betroffene wurden ausgegrenzt und erlebten oftmals erneute Traumatisierungen. Viele Ärzte weigerten sich zudem, Operationen zur möglichen Refertilisierung von zwangssterilisierten Männern vorzunehmen. Erst 1987 gründete sich der Bund der Euthanasie-Geschädigten und Zwangssterilisierten e.V. und setzt sich seitdem bundesweit für die Betroffenen ein, vernetzt diese untereinander und vertritt sie oftmals auch juristisch. So können einige der betroffenen Personen zum ersten Mal über ihre Erlebnisse sprechen. Das dies durchaus nicht leicht ist, zeigte ein Zuhörer im Publikum eindrücklich, dessen Stimme fast wegbrach, als er über seinen getöteten Bruder sprach.
Aktualität des Themas
Gegen Ende ihres Vortrags wies Magret Hamm auf die Aktualität der Thematik hin. Dazu ein paar Stichpunkte: Historiker*innen stufen heute den Beschluss von 1961 als Fehlentscheidung ein, wohingegen der Bundestag offiziell an der Rechtmäßigkeit der Entscheidung festhält. Humangenetik ist in der gegenwärtigen Medizin und wissenschaftlichen Fortschritten schon fast ein Dauerthema. Schwangere müssen sich schon fast rechtfertigen, wenn sie sich gegen Bluttest beispielsweise auf Trisomien entscheiden. 2006 bekam der Schweizer Journalist Erwin Koch für seinen Artikel „Der gute Tod“ einen hochdotierten Medienpreis, vergeben von einer Versicherungsgruppe und dem Deutschen Hygiene-Museum. In seinem Artikel erzählt er von einem niederländischen Arzt, der schwerstkranken und behinderten Kleinkindern auf Wunsch der Eltern Sterbehilfe leistet.
Krankentötungen gehören also keineswegs der Vergangenheit an. Fragen nach Ethik in der Medizin und nach dem Wert des Lebens, sind also höchstaktuell. Eugenik 2.0 sozusagen. Die Ausstellung erfasst, verfolgt, vernichtet. Kranke und behinderte Menschen im Nationalsozialismus kann noch bis zum 06.09.2016 in der Unteren Rathaushalle besucht werden.
Rieke Bubert
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