Es ist noch nicht klar, wann. Es ist noch nicht bekannt, wie. Aber es steht fest, dass es sie geben wird: die zweite Staffel der Serie “Gentleman Jack”, dieses Frühjahr, über das Leben von Anne Lister.
Unter ihren Zeitgenossen abwertend bekannt als “Gentleman Jack”, bezeichnet Chris Roulston die englische Landbesitzerin (*3. April 1791; † 22. September 1840) als “the first modern lesbian”. Durch ihr maskulines Auftreten, ihren schlichten, schwarzen Kleidungsstil und ihre zahlreichen Affären wurde Anne Lister zu Lebzeiten berühmt-berüchtigt. Heutzutage ist sie vor allem bekannt, weil sie ausführlich Tagebuch schrieb – auf etwa 7.720 Seiten mit über fünf Millionen Wörtern. Etwa ein Sechstel davon – und zwar vor allem jene Passagen, welche die intimen Details ihrer romantischen und sexuellen Beziehungen betreffen – wurden codiert verfasst. Dieser Code bestand aus einer Kombination von Algebra und Altgriechisch und konnte erst in den 1930er Jahren entschlüsselt werden. Die Ereignisse, die durch diese Entschlüsselung zum Vorschein kamen, waren so schockierend detailliert, dass sie für einen Schwindel gehalten wurden, bis ihre Authentizität bestätigt werden konnte.
Anne Lister, in der BBC/HBO Serie gespielt von Suranne Jones, erlebt aktuell eine Renaissance der Beliebtheit, vor allem unter queeren Zuschauer*innen. Wie beim Wort “queer”, welches eine Zeit lang negativ besetzt war, ist es an der Community, sowohl Worte als auch historische Figuren für sich selbst zurückzuerobern. Anne Lister ist modern – sie war hochgebildet, sie entwickelte ihren Landsitz Shibden Hall weiter, und verfolgte ein aktives Interesse an Geschäftsmodellen bezüglich Landschaft, Zugverkehr, Kanalisation und Kohleabbau. Sie wich damit sowohl von historischen Erwartungen bezüglich ihres Geschlechts ab, als durch ihre Sexualität auch von der vorherrschenden Heteronormativität. Sie ist eine Inspiration und mit der Grund, warum es auf den frauenseiten bald die “gentle-woman”-Kolumne über das Leben einer “modernen” Lesbe in Bremen geben wird. Aber bevor wir zu der Bedeutung Anne Listers in der Gegenwart kommen, stellt sich natürlich zunächst einmal die Frage – wer war sie in der Vergangenheit?
WER WAR EIGENTLICH ANNE LISTER?
Anne Lister war das zweite Kind und die älteste Tochter von Jeremy Lister (1752–1836), der im August 1788 Rebecca Battle (1770–1817) aus Welton in East Riding, Yorkshire, geheiratet hatte. Das erste Kind des Paares, John, wurde 1789 geboren, starb aber noch im selben Jahr, sodass Anne die Älteste und später Erbin wurde. Insgesamt hatten die Listers vier Söhne und zwei Töchter, aber nur Anne und ihre jüngere Schwester Marian überlebten das Alter von zwanzig Jahren. Nachdem sie in Halifax geboren wurde, wuchs Anne Lister in Market Weighton auf.
1804 wurde Anne Lister auf die Manor House School in York geschickt, wo sie ab einem Alter von 13 Jahren ihre erste Liebe, Eliza Raine (1793–1860) kennen lernte. Obwohl es sich fast schon wie ein Groschenroman liest, wird in biographischen Quellen beschrieben, wie die beiden sich im Internat ein Zimmer teilten, Anne jedoch nach zwei Jahren gebeten wurde, die Schule zu verlassen.
„Sie besuchte die Schule erneut, nachdem Eliza diese verlassen hatte. Eliza erwartete, als Erwachsene mit Anne zusammenzuleben, aber Anne begann Affären mit Isabella Norcliffe und Mariana Belcombe, Tagesschülerinnen an der Schule. In ihrer Verzweiflung und Frustration wurde Eliza Patientin im Clifton Asylum, das von Marianas Vater, Dr. Belcombe, geleitet wurde.“
Anne Listers Freiheit, sich so zu verhalten wie es ihr gefiel, anstatt wie es von ihr erwartet wurde, entstand größtenteils aus ihrem Vermögen und dem Erbe von Shibden Hall, welches sie in 1826 in Besitz nahm und 1836 offiziell überschrieben bekam.
„Neben den Einkünften aus der landwirtschaftlichen Pacht gehörten zu Listers Finanzportfolio auch Immobilien in der Stadt, Anteile an der Kanal- und Eisenbahnindustrie, am Bergbau und an Steinbrüchen“
… womit Anne ihren Lebensstil und einige Europareisen finanzieren konnte. Mariana Belcombe, später Mariana Lawton, blieb einige Jahre lang die Geliebte von Anne Lister, auch wenn das Paar durch Anne Listers ungewöhnliches Auftreten in der Öffentlichkeit einige Schwierigkeiten hatte. Da Mariana zudem mit einem Mann verheiratet war ist unklar, wie offen die beiden mit ihrer Beziehung umgingen. Wie aus ihren Korrespondenzen hervorgeht, hatte Mariana ebenfalls ihren eigenen Namen für Anne, als diese bereits als “Gentleman Jack” bekannt war – sie nannte sie Fred.
In einem Ausschnitt ihrer Tagebücher von Freitag, dem 5. November 1824 beschreibt Anne Lister wie Mariana die Angewohnheit habe,
„mich aus einem Witz oder einer Geschichte ‚Fred‘ zu nennen. Ich hatte viele Spitznamen, wurde aber nie mit meinem eigenen Namen angesprochen, außer von meiner Familie. Mrs. Barlow schien es schweigend zu bemerken, dann fügte sie hinzu: Fred, hat sie ihren Ehemann nicht so genannt?“ (Übersetzung d.A.)
ANNE UND ANN
Eine viel wichtigere Beziehung, nach Mariana Lawton, sollte jedoch die reiche Erbin Ann Walker darstellen. Am 30. März 1834 besuchten die beiden zusammen die Ostermesse in der Holy Trinity Church, Goodramgate, York, und galten danach als verheiratet, auch wenn eine Heirat zwischen zwei Frauen zu dieser Zeit nicht anerkannt wurde. Inzwischen wird die Kirche als Geburtsstätte der „ersten lesbischen Ehe in Großbritannien“ beschrieben und durch eine entsprechende Plakette ausgezeichnet.
Die Hochzeitsreise führte Anne und Ann in die Schweiz, wohin Anne Lister 1838 zurückkehrte, um als Erste den höchsten Gipfel in den französischen Pyrenäen (Vignemale, 3.298 m) zu besteigen. Trotz insgesamt bester Gesundheit und großer körperlicher Fitness verstarb Anne Lister im Alter von 49 Jahren auf einer Reise durch Georgien aufgrund eines Fiebers. Ihr Grab wurde 2010 in Großbritannien wiederentdeckt. Neben ihren Tagebüchern besteht Anne Listers Nachlass aus über 1000 Briefen. Dokumentierte Themen reichen hier von der Industrialisierung im 19. Jahrhundert zur Macht des Landadels in dieser Zeit, sowie von der detaillierten Beschreibung ihrer Beziehungen zu Frauen bis hin zu Anne Listers Reisen in Europa. Seit 2011 sind Anne Listers Tagebücher Teil des UNESCO Weltdokumentenerbes, die vor allem durch ihre Dokumentation von Anne Listers queeren Lebensstil einen unermesslichen Wert gewinnen.
Wie die Tagebücher, welche „die für Historiker üblichen Kategorien sprengen“ (Übersetzung d.A.), sprengt Anne Listers Leben leider auch den Umfang eines einzelnen Artikels. Wer heute noch mehr über Anne Lister erfahren möchte, kann Angele Steidele’s deutsche Biographie lesen. Steidele’s Einschäzung, dass man Anne Lister durchaus einen Frauenheld und einen Schuft nennen könnte, scheint mehr als akkurat. Allerdings wird es zumindest durch die sympathische Darstellung von Suranne Jones im Fernsehen schwer, ihr etwas vorzuwerfen. Die Serie wäre eine alternative Möglichkeit, sich über Anne Lister zu informieren und von ihr unterhalten zu lassen.
Wer heute etwas über das queere Leben in Bremen erfahren möchte ist zudem herzlich eingeladen, die neue „gentle-woman“-Kolumne zu lesen, die ab nächster Woche einmal monatlich erscheint. Auch wenn es leider unmöglich ist, mit einer Lebensgeschichte wie der von Anne Lister mitzuhalten, werde ich zumindest versuchen, unterhaltend zu sein.
Bis dahin grüßt euch eine moderne Gentle-Woman –
Jack
Conny meint
Hi! Anne Lister war übrigens auch zweimal in Bremen! 😉