Selten habe ich ein Buch so schnell verschlungen wie „Kummer aller Art“ von Mariana Leky. Zusammengestellt aus literarischen Kolumnen, die Leky zunächst für die Psychologie Heute verfasst hatte, erschien im Juli 2022 ihr neuestes Buch. In den Geschichten begegnen uns verschiedene Menschen aus dem Umfeld der Ich-Erzählerin. Das Buch lässt Lesende an ihren Sorgen teilhaben, von ihnen lernen und Mut schöpfen.
Zur Autorin
Mariana Leky, geboren 1973 in Köln, begann zunächst eine Ausbildung zur Buchhändlerin und studierte anschließend Kulturjournalismus an der Universität Hildesheim. Sie lebt in Berlin und Köln und veröffentlichte bereits mehrere Erzählungen und Romane. Die Verfilmung ihres Spiegel-Bestsellers „Was man von hier aus sehen kann“ erscheint im Januar 2023 in den deutschen Kinos.
Der einzigartige Schreibstil der von Mariana Leky hatte mich bereits beim Lesen ihres Romans „Erste Hilfe“ (2004) in den Bann gezogen. Wiederkehrende Themen in ihren Büchern sind die mehr oder weniger alltäglichen psychischen Sorgen und Nöte, die viele von uns kennen. Leky beschreibt jeglichen Kummer auf detailreiche Art und Weise und mit einer gleichzeitigen Leichtigkeit, sodass mir als Lesende die Identifikation mit ihren Figuren leicht fällt. Die Geschichten machen mir Mut, den Herausforderungen des eigenen Lebens wohlwollender zu begegnen. Auf diese Weise nimmt Leky vielen Tabuthemen rund um psychische Gesundheit die Schwere, ohne sie jedoch zu bagatellisieren. Mit einem einzigartigen Gespür für Feinheiten findet sie sprachliche Bilder für Gefühle und Absurditäten des Alltags, für die ein einziges Wort nicht ausreicht und die treffender nicht sein könnten.
Kummer aller Art haben wir alle
In „Kummer aller Art“ erleben die Figuren neben Höhen wie Verliebtheit, Mutausbrüchen und tiefer Freundschaft auch Tiefen mit Platz- und Flugangst, Liebeskummer, Schlaflosigkeit und Furcht vor Alter oder der Rente. In jedem Kapitel stehen die Probleme verschiedener Nachbar:innen, Freund*innen und Familienmitglieder der Ich-Erzählerin im Mittelpunkt. „Kummer aller Art“ hat dabei das Potenzial, Menschen verschiedener Geschlechter, Altersgruppen und sozialer Milieus anzusprechen. Ob die unter Liebeskummer leidende Patentochter Lisa, Cafébesitzer Achim, Psychoanalytiker Onkel Ulrich, der in Rente geht – die Erzählerin geht mit ihnen gemeinsam dem jeweiligem Kummer aller Art auf den Grund.
Manche Figuren wie der Nachbar Herr Pohl und sein Zwergpinschermischling Lori, Frau Wiese und Onkel Ulrich tauchen in verschiedenen Kapiteln immer wieder auf wie alte Freund*innen, deren Entwicklungen ich beim Lesen freudig mitfiebernd nachverfolgt habe. Nach und nach finden sich in den Geschichten Lösungen auf die Probleme, und sei es auch nur ein anderer Blick auf Angst, Trauer und Co.
„Der eine Junge deutet mit seinem Leuchtschwert auf den neben mir bebenden kleinen Hund und fragt, nicht ohne Hohn: „Was ist denn seine Superkraft?“ Ich schaue mitleidig auf Lori und überlege, wie wir würdevoll aus dieser Frage herauskommen, als der Junge mit der Pudelmütze sagt: „Seine Superkraft ist Angst. Wenn der zittert, bebt die ganze Welt.“ (Mariana Leky in „Kummer aller Art“)
Für mich fühlte es sich beim Lesen von „Kummer aller Art“ so an, als würde Mariana Leky kleine Fenster in den Köpfen derer öffnen, die uns allen im Alltag begegnen, welche ihre Sorgen jedoch nicht immer mit uns teilen. Wie oft ist mir vor dem Wohnhaus schon der bedrückt dreinblickende ältere Nachbar begegnet, wobei ich mich fragte, ob etwas und was ihn bedrückt. Wie häufig bekomme ich die Höhen und Tiefen meiner Verwandten mit, ohne wirklich zu wissen, wo der Schuh drückt?
Vielleicht musste ich „Kummer aller Art“ lesen, um zu lernen, dass sich Nachfragen lohnt und dass um mich herum zahlreiche Menschen leben, welche alle Kummer aller Art erleben. Nachbar*innen, die mir vielleicht räumlich nahe sind, aber deren Freud und Leid, Hoffnungen und Ängste ich nicht kenne. Familienmitglieder, mit denen die Konversation häufig nur an der Oberfläche kratzt. Freund*innen, die sich aus Scham nicht öffnen, obwohl wir beide vielleicht ähnliche Sorgen teilen. Menschen, die vielleicht niemanden haben, mit dem sie ihre Gefühle und ihren Kummer teilen können. Die richtige Frage auf dem Hausflur kann Fenster in die Leben anderer öffnen und ihnen zeigen: Ich bin nicht allein.
Eine Absolute Leseempfehlung
Wenn wir Mariana Lekys Geschichten über alltägliche Sorgen sowie psychische Erkrankungen lesen, können wir zum einen lernen, psychische Probleme zu enttabuisieren, indem wir nicht über sie schweigen. So merken wir, dass wir nicht allein sind. Dass es vielen anderen in unserem Umfeld garantiert auch so geht. Dass es uns als Betroffenen hilft, sich jemandem anzuvertrauen. Und dass es sich lohnt, nachzuhaken, die richtige Frage zu stellen, zuzuhören, nicht wegzusehen.
„Am heutigen Mittwoch gehen wir durch den Park. Wir gehen und sagen nichts, bis uns mein Nachbar Herr Pohl und sein Zwergpinschermischling Lori entgegenkommen. Ich stelle alle einander vor. Einen Moment lang stehen wir unschlüssig da, dann fragt Herr Pohl: „Darf ich Sie begleiten?“ Lisa nickt, Ich glaube, sie nickt, weil man Herrn Pohl ansieht, dass er sich mit Traurigkeiten auskennt, als schwebe der Schriftzug Kummer aller Art über seinem Kopf. Wir gehen zu fünft weiter, schweigend, Lisa in der Mitte, mit Lori an der Leine, Herr Pohl und ich rechts und links von Lisa, der Liebeskummer stramm vorneweg wie ein blasierter Pauschalreiseführer.“ (Mariana Leky in „Kummer aller Art)
Zum anderen helfen Lekys Geschichten, die Perspektive zu wechseln, mehr Verständnis für die Sorgen anderer aufzubringen und weniger nebeneinander her zu leben. Wir können auch lernen, Konflikte anzugehen. Es besser machen, als die Figur Frau Wiese, die in einem Kapitel in „Kummer aller Art“ die Konfrontation mit einem laut über ihrer Wohnung herumpolternden Nachbarn scheut, welcher glücklicherweise eines Tages vor der Tür steht und fragt: „Guten Tag […] ich bin der Neue. Das Haus ist ja sehr hellhörig. Deshalb wollte ich mal fragen: Bin ich eigentlich zu laut?“. Dieser Nachbar hat jedoch erfolgreich die Perspektive gewechselt und damit Frau Wieses Sympathie gewonnen.
„Kummer aller Art“ ist ein sehr tiefgründiges Buch, welches die Schwere kleiner und großer Sorgen und Ängste ernst nimmt und zugleich zeigt, wie die einzelnen Figuren es schaffen, etwas von dieser Schwere hinter sich zu lassen. Mariana Lekys Geschichten und Erzählweise haben mich sehr berührt, weshalb ich das Buch nur dringend weiterempfehlen kann.
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Hannah Lüdert
Karin Danielmeyer meint
vielen Dank für diese Buchempfehlung. Das Buch muss ich sofort haben!