Nach wie vor ist für mich das Wählen ein Muss. Zu tief ist in meiner Biografie verankert, dass dieses Recht ein hohes Gut ist. Allerdings kenne ich auch Leute, die vom Wahlrecht unter den gegebenen Verhältnissen nichts halten. Ich habe drei Argumente, die für das Wählen sprechen oder zumindest dem Wählen den richtigen Platz einräumen.
Wählen ohne Illusionen
Wer zur Wahl geht und meint, mit einem oder auch mehreren Kreuzchen die Welt grundlegend verändern zu können, macht sich falsche Hoffnungen. Parteien, gleich welcher Couleur, und die entsprechenden Regierungen haben wenig Spielräume für bahnbrechende Veränderungen, egal wie radikal ihre Forderungen auch klingen mögen. Den Kapitalismus per Wahl aus den Angeln heben? Dafür sind die wirtschaftlichen Verflechtungen zu global und zu mächtig. Es sind tatsächlich nur kleine Unterschiede zwischen den Regierungen auf Landes- oder Bundesebene, die wir im Laufe der Jahrzehnte gesehen haben – klein aber nicht gar nichts! Und es ist mir eben nicht völlig egal, ob es mehr Atomstrom oder mehr alternative Energie gibt, ob es bessere Kinderbetreuung gibt oder dieses bescheuerte Erziehungsgeld. Ob TTIP so durchgeht oder doch noch verändert wird.
Wählen ohne alles andere zu lassen
Wer zur Wahl geht und meint, damit für die nächsten vier Jahre genug getan zu haben, liegt falsch. Regierungen brauchen Druck von unten, um sich zu bewegen. PolitikerInnen haben meist ein feines Gespür dafür, was im Spektrum der Bevölkerung gerade die Leute bewegt und wer mehr oder weniger Einfluss hat. Dass eine CDU-Regierung (als einzige in Europa) den Atomausstieg durchsetzen musste, liegt nicht zuletzt an den Anti-Atombewegung der vergangenen 30 Jahre. Und aktuell: Von vielen aktiven und lautstarken UnterstützerInnen für die Aufnahme und gute Betreuung von Flüchtlingen hängt ab, ob die Politik tätig wird. Oder eben umgekehrt, wenn wir den Pegidas und Co. das Feld überlassen, hören wir schnell scheinheilige Sprüche wie „Die Ängste der Bevölkerung ernst nehmen“, was ja nix anderes heißt als „Wer weiß, wie viel Wählerstimmen es uns kostet, uns zu weit für Flüchtlinge aus dem Fenster zu lehnen.“
Wählen ohne rechten und unpolitischen Menschen das Feld zu überlassen
Es ist ja bekannt, dass ein großer Teil derer, die nicht mehr wählen gehen, die „kleinen Leute“ sind, die über wenig Wohlstand und Chancen verfügen. Sie überlassen damit aber das Feld denen, die von den aktuellen gesellschaftlichen Verhältnissen profitieren. Dieser Rückzug hilft ihnen auch nicht weiter, verbessert ihre Lage nicht und ist für mich keine „aktive“ Wahlverweigerung.
Fazit: Kein entweder – Oder
Also ich finde: Wählen gehen! UND sich in Bewegung setzen!
Christel Schütte
Birgit meint
Dass ich als Frau wählen gehen kann, ist nocht nicht so furchtbar lange her. Dass Vergewaltigung in der Ehe strafbar ist, hat bis in die 90er Jahre gedauert, und dann wurde es von einem Parlament beschlossen. Dass es den Mindestlohn gibt (der vor allem Frauen hilft, weil sie die Mehrheit der Wenigverdienerinnen stellen), hat was mit dem letzten Wahlergebnis bei der Bundeswahl zu tun. Und dass kleine Menschen, die auf dem Standesamt angemeldet werden, nicht mehr nur als weiblich oder männlich angemeldet werden können, hat was mit der Änderung des Personenstandsgesetzes zu tun, auch eine Bundestagsentscheidung. Ebenfalls das allgemeine Gleichbehandlungsgesetz, das noch viele Schwächen hat, aber zumindest den Ansatz hat, Diskriminierung zu bestrafen. Diese Liste könnte ich sehr lange weiterschreiben.
Diese Errungenschaften als „Farbe des Zauns“ zu betrachten, die keine Rolle spielen, halte ich geradezu für zynisch. Wie froh wären die Frauen in Afghanistan, wenn es dort ein Gewaltschutzgesetz gäbe wie hier, durch das gewalttätige Partner der Wohnung verwiesen werden können.
Larissa meint
Liebe Birgit,
bin so frei Dich direkt anzuschreiben, denn ich finde Deine Beispiele, was wir uns als Menschen hart erkämpfen mussten, gut.
In meinen Augen sind es nämlich super Belege dafür, dass wir als „Mensch“ kaum noch gehört werden und richtig Krach machen müssen, um etwas, was selbstverständlich sein sollte, wie das auch eine Vergewaltigung innerhalb einer „Ehe“ strafbar ist und rechtliche Konsequenzen haben muss.
Aber wie bitte hört sich das an?? Ich muss als Mensch, genauer Frau, meinen Körper, meine Würde wegen hochtrabend komplizierten und anscheiend weltfremden Paragraphenreitern übern Haufen werfen! Gab halt kein Gesetz. Dass es letztlich doch verabschiedet wurde begrüße ich natürlich, frage mich aber gleichzeitig, was hier veranstaltet wird. Mit Zusammenleben, einer sozialen Gesellschaft, einem Miteinander hat das irgendwie nichts mehr zu tun, finde ich. Eher habe ich den Eindruck, dass ich 1. kaum noch Mensch sondern eher Konsumentin bin und 2. (mit Blick auf die ganze Welt) dass sich eine Art Spitze bildet die auf ein Nadelör zusteuert. An vorderster Front stehen längst nicht mehr Demokraten sondern kapitalgeile Finanzbullen gefolgt von Lobbyisten die einen globalen Raubzug gestartet haben und wie die Heuschrecken ein Land nach dem anderen platt machen. Und wenn ich mir das alles so anschaue dann finde ich den Weg unserer Regierung, also Miss Ami-Angela, alamierend! Errungenschaften wie neue Gesetze zum Schutz des Individuums: an sich top. Diesen kraftraubenden Weg weiter gehen: flop. Manchmal ist es die Stille, die mehr Gehör findet als tausend Trillerpfeifen. Utopie: stell Dir vor, es sind Wahlen, und keiner geht hin. Stell Dir vor, die Politiker (Sprachröhren der Wirtschafts- und Finanzaffen) rufen zum Wirtschaftswachstum auf, und keiner spielt mit. Stell Dir vor, Du bist Mensch und kein Konsument. Nicht Kopf und Hemdskragen, sondern Kopf und Herz.
Birgit meint
Was soll denn passieren, wenn keiner hingeht? Für mich kommt da überhaupt keine positive Vorstellung auf. Und was wäre denn eine Alternative zur Demokratie, wie wir sie haben?
Es gibt so viele Staaten, die von Rechtsstaatlichkeit und Wahlfreiheit so weit weg sind – und so viel weiter weg wie wir hier. Russland z.B.. Oder Burundi gerade z.B..
Und Island, das sich z.B. während der Finanzkrise ausgeklinkt hat und die internationalen Gläubiger einfach nicht mehr bedient hat, hat das auf der Grundlage einer parlamentarischen Initiative getan.
Genau weil ich die neoliberale Politik der letzten 25 Jahre falsch finde, gehe ich wählen.
Eine bessere Alternative zur Regelung des Miteinanders hat sich mir noch nirgends aufgetan.
Larissa meint
Liebe Birgit,
so lange wir wählen gehen – wird sich nichts ändern.
So weit ich das mitbekommen habe ist die Frage nach einem „Danach“, also einer gelebten, reellen Alternative eine, die selbst die Experten weltweit nicht beantworten könne, weswegen ich hier auch kein Fass aufmachen will. Fakt ist: ich habe Angst. Aus meiner Sicht hat sich alles zugespitzt, was gleichzeitig bedeutet, dass da oben selbsternannte „Götter des bedruckten Papiers“, bekannter als Geld, UNSER ALLER Schicksal mit einem Knopfdruck atomisieren können. Puff. Dank der BND / NSA Affäre wurde mir endgültig klar, dass ein so kostbares Wort wie „Freundschaft“ (z.B. in Bezug auf die USA) in unserem politischen System so wertvoll ist wie ein Haufen Kuh*** – wobei der Vergleich auch nicht ganz passt, denn dieser kann noch als Dünger Verwendung finden.
Hast Du keine Angst? Stellt sich Dir nicht die Frage, warum trotz jahrzentelangen Wahlen (in Deutschland) die Ausbeutung des Arbeiters dramatisch zugenommen hat? Warum die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer werden? Wir von unserer eigenen Regierung belogen werden?
Ich habe Angst. Aber ich habe es auch satt, Politikern hinterherzurennen und „Bitte Bitte“ zu machen. Mein neuer Weg ist bodenständig, lokal, ich besinne mich lieber auf echte Macht, und die heißt für mich Wissen und freie Meinung. Unsere Ressourcen werden knapp, die Götter des bedruckten Papiers brauchen diese aber um ihren Lebensstandard nicht nur aufrecht zu erhalten, sondern noch zu toppen! Wachstum? Unsere Erde blutet schwarz, Menschen deswegen rot, beide werden regelrecht abgeschlachtet wie Vieh.
Ich wühle lieber in der Erde und pflanze einen Apfelbaum als in der Sch*** um nach wertlosem, beschmierten Papier. Mein Wissen bleibt, auch wenn eine galoppierende Inflation eintritt. Das „Geld“ ist ohne Gold-Bindung schon seit den 70ern ein Hirngespinst und löst sich in diesem Fall einfach auf.
Matthias meint
Bin zufällig hier gelandet und denke, dass der Artikel zeigt wie schlecht es um unsere Demokratie und das Miteinander steht. Dazu gehört schließlich auch Toleranz und Akzeptanz und NICHT: andere von der eigenen Meinung überzeugen zu wollen!!! Soll doch jeder so machen wie er will. Oder??? Viel Spaß beim Wählen und Ärgern über das Ergebnis danach und die poltischen Beschlüsse erst recht. 🙂
Larissa meint
Hallo Du spannendes Mensch,
ja, jeder so, wie er will. Aber dürfen wir wirklich noch so wie wir wollen? In Zeiten von geknebelten Politikern, Bankenmacht und Lobbyistenpeitschen fällt es zumindest mir zunehmend schwerer mich selber frei zu fühlen und das Wort „Demokratie“ in Bezug auf Deutschland zu nutzen. Ob ich als einzelne zur Wahl antrete oder nicht interessiert keine Sau (oder Kuh). Allerdings werde ich den Eindruck nicht los, dass unser Karren voll vor die Wand kracht. Denke daher dass eine Rückgewinnung der Freiheit eher im Pulk zu schaffen ist. What do you think about it?
Gerti meint
Volles Ja zu Larissa!
Und hierzu:
„Es ist ja bekannt, dass ein großer Teil derer, die nicht mehr wählen gehen, die „kleinen Leute“ sind, die über wenig Wohlstand und Chancen verfügen.“
So so…. vielliecht sind es auch Leute die sich MEHR Gedanken gemacht haben; alle in diesem Video
https://www.youtube.com/watch?v=Wfi_ivppEwI
sind wohl nicht arme Existenzen und chancenlos.
Wer anderer meinung ist muß nicht dümmer oder arm sein.
Larissa meint
Mut zur Wahrheit!
„(…) Es sind tatsächlich nur kleine Unterschiede zwischen den Regierungen auf Landes- oder Bundesebene, die wir im Laufe der Jahrzehnte gesehen haben – klein aber nicht gar nichts!“
Mein Kommentar: die machen da oben so wenig wie möglich und so viel wie nötig, und sie lassen uns dafür richtig ackern! 30 Jahre Engagement und dann der theroretische Ausstieg aus der Atomkraft, denn Deutschland liegt nunmal nicht auf dem Mars und in unseren Nachbarländern wird fleißg gebaut. Blöd dass da auch keine Mauern oder Stacheldrahtzäune helfen wenn uns so ein Ding um die Ohren fliegt.
„(…) Wer zur Wahl geht und meint, damit für die nächsten vier Jahre genug getan zu haben, liegt falsch. Regierungen brauchen Druck von unten, um sich zu bewegen.“
Druck von unten? Ja, gut. Aber warum Energie verbraten wenn es viel einfacher geht indem wir die Wahlen boykottieren, oder, mein Favorit, den Wahlzettel ungültig machen?
„PolitikerInnen haben meist ein feines Gespür dafür, was im Spektrum der Bevölkerung gerade die Leute bewegt und wer mehr oder weniger Einfluss hat.“
Volker Pispers (u. a.): „Wir können die Farbe des Zauns wählen.“
Und das Lieblingsspiel der Politiker scheint Blinde Kuh zu sein. Erst, wenn ein paar Kühe die Scheuklappen abnehmen konnten, wird wieder so viel wie nötig und so wenig wie möglich an unseren Lebensbedingungen auf der Weide „gebessert“, vielleicht werden uns ein paar Kräuter oder importiertes Heu vors Maul geworfen, und da Kühe Wiederkäuer sind können wir uns erstaunlich lange damit begnügen, Muuuuuhhh!!
Ronja meint
Ich sehe es wie Christel und Karo. Aber: Der Wahlkampf wirkt auf mich bis jetzt nicht motivierend! Nicht mißverstehen: Ich werde zur Wahl gehen! Es kommt nur alles so aussagelos daher. Die Reihe im Weser Kurier fand und finde ich gut: viel Platz, dass sich Kandidatinnen und Kandidaten vorstellen können. Die Plakate an der Strasse sind unterirdisch schlecht – bis auf die von Frau Motschmann. Okay, Plakate sind nicht wirklich das, was mich bei meiner Wahlentscheidung leitet, aber ideen- und Lieblosigkeit zeigt mir nicht, dass ich als Wählerin ernst genommen werde.
Karo meint
Völlig richtig. Du hast es auf den Punkt gebracht!