Wie kann das sein? Betont lässig setze ich meine Sonnenbrille im Laufschritt auf. Ich gehe mit gestrafften Schultern und erhobenen Hauptes zu meinem Auto. Wer weiß, vielleicht beobachtet er mich noch durch die Fenster? Immer noch fassungslos ordne ich mich in den dichten Feierabendverkehr ein.
Ist das gerade wirklich passiert? Mir? Ernsthaft?
Der Versuch, meine Gedanken zu ordnen, scheitert immer wieder. Fragmente des Films Marnie von Alfred Hitchcock flackern in meinem Kopf auf: Der gutaussehende, reiche und charmante Gentleman, gespielt von Sean Connery, gibt der armen, verstörten, geistig kranken Kleptomanin Tippi Hedren einen Job in seinem Unternehmen. Er zwingt sie zur Heirat, nachdem sie auch bei ihm Geld stahl. Gut, das ist nicht mehr Gentleman-like. Aber er versucht sie mit seiner Liebe zu heilen. Okay, auf der Hochzeitsreise wird er einmal handgreiflich und sie versucht sich zu ertränken, aber am Ende ist dann doch alles gut und das arme Ding wurde erfolgreich errettet.
Ein Auto hupt, grüner wird es nicht. Dachte der Mann, der mich aus der Fassung gebracht hat, er müsste mich retten? Sehe ich irgendwie der jungen Tippi Hedren ähnlich? Also, er war kein Sean Connery, weder der Junge noch der Alte. Im Gegensatz zu Tippi habe ich auch nicht nur zweifelhafte Referenzen anzubieten. Ich habe Abitur, studiert, bald eine IHK-Prüfung abgeschlossen und das alles mit Bestnoten. Ich habe jahrelange Berufserfahrung vorzuweisen und kann, so dachte ich, durchaus einen Arbeitsplatz finden, ohne mich auf mein Aussehen als Referenz zu berufen. Mein wenig charmante Gesprächspartner, den ich schließlich einfach in seinem Büro sitzen ließ, war da anderer Ansicht: „Die Stelle, auf die Sie sich beworben haben, ist zwar schon besetzt, aber Sie können als Sachbearbeiterin anfangen und sich dann zu meiner Assistentin hocharbeiten!“ Zwinker, zwinker, über die wulstigen Blutegel-Lippen lecken, „Du bist eine Schokotorte und Gänsebraten“- Blick.
Und darauf hatte ich wirklich drei Stunden gewartet?
Da bei mir ein Gespräch ausfiel und der Blutegel-Lippen-Mann mir telefonisch mitteilte, leider einen Gesprächstermin nach dem anderen zu haben und mich nicht vorher empfangen zu können, habe ich vor seinem Bürohaus drei lange Stunden in meinem Auto gehockt. Komisch war, dass durch die Tür, die ich perfekt im Blick hatte, nicht eine einzige Person rein oder rausgegangen war. Die ganzen drei Stunden. Nun, vielleicht sind all die wichtigen anderen Gesprächspartner durch die Büsche gekrabbelt und im Hinterhof durch ein Fester rein. Kann ja sein. Vielleicht kommt der Blutegel-Lipper sich aber auch wie der Held im Erdbeerfeld vor und hat seine ihm gegebenen Machtposition voll ausgekostet.
Mein Kopf fühlt sich leer und voll zugleich an. Was hat der sich nur eingebildet? Mich erst grundlos warten lassen, dann mir zu sagen, die Stelle sei besetzt und dann dürfte ich mich aber gern hocharbeiten. Zwinker, zwinker, über die Blutegel-Lippen lecken. Passiert das anderen Frauen auch?
Zu Hause angekommen, rief ich erst mal meine Freundin an. Sie sagte nur: “Hast du richtig gemacht, dass du einfach gegangen bist. So was ist mir auch schon passiert. Hab ich auch schon von anderen gehört. Manche fangen dann da an. Man muss den Chef nur auf Abstand halten, aber schon flirten, sonst wirft er dich ja raus.“
Wow, hätte ich gewusst, dass es so läuft, dann hätte ich mir das Abi, das Studium, die Ausbildung und alles sparen können! Mein Leben wäre so viel einfacher verlaufen! Ich hätte Kleptomanin werden sollen und mich von einem reichen Sean Connery erretten lassen sollen! Ich bin echt ein dummes Ding!
Michelle Bourguignon
Schreibe einen Kommentar