Wenn der Begriff AD(H)S fällt, assoziieren viele Menschen damit unverzüglich das Bild eines hyperaktiven Jungens, den die Allgemeinheit Zappelphillipp getauft hat. Er kann nicht stillsitzen, fällt in der Schule durch mangelnde Impulskontrolle auf und rutscht unruhig auf seinem Stuhl hin und her. Diese Ansicht ist jedoch sehr schlecht gealtert. Und genau deshalb müssen wir dringend über psychische Erkrankungen, Stereotype und Gender sprechen.
Doch kein Zappelphillipp?
Entgegen der viel zu lange vertretenen Hypothese, dass AD(H)S hauptsächlich bei Jungen vorkäme, können genauso Erwachsene, vor allem aber auch Frauen betroffen sein. Bei den Diagnosen fallen weiblich gelesene Menschen aber häufig durchs Raster, denn AD(H)S äußert sich bei ihnen oft ganz anders. „Die Inzidenzrate liegt bei 1:7, das heißt auf sieben neu diagnostizierte Jungen kommt ein neu diagnostiziertes Mädchen. Da Experten von einer Inzidenzrate von 1:1 ausgehen, sind sechs von sieben Mädchen nicht diagnostiziert.“ so Diplom Psychologin Angela Yael Blumberger. Woran das liegt? Nur selten verhalten sich die weiblichen Betroffenen zappelig, ihr AD(H)S ist unauffälliger.
Die Zappelphillipp-Vorstellung ist allein deshalb grundsätzlich problematisch, weil sie ignorant gegenüber der Diversität der Symptome ist. Damit werden stereotype Auffassungen von AD(H)S bestärkt, die nur der halben Wahrheit entsprechen und nicht auf den Einzelfall anwendbar sind. Das senkt die Trefferquote der Diagnostik. Die viel größere Misere besteht allerdings darin, dass diese Annahme auf klinischen Studien beruht, die in den 70-er Jahren ausschließlich an Jungen durchgeführt wurden. Dieses Versäumnis spielte der Wissenschaft sehr viel Chaos ein, wie sich rückblickend betrachtet feststellen lässt. Weil der Gender-Faktor damals bei Datenerhebung und -auswertung vergessen wurde, ist man also zu Ergebnissen gekommen, die unvollständig oder sogar schlichtweg falsch sind. Trotzdem werden die Diagnosekriterien aus dieser Forschung teilweise bis heute verwendet. Häufig leider ohne Erfolg – und das obwohl man es längst besser wissen sollte.
Aber was ist überhaupt AD(H)S?
„Mir wurde damals erklärt, dass ADHS bedeutet, dass ganz viele Nervenkanäle im Kopf offen sind. Das heißt ich verarbeite ganz viele Reize und es kommen auch ganz viele durch und mein Gehirn kann das nicht so richtig priorisieren.“ (Sonja im Interview mit Funk)
„Ich war einfach so ein typisches Hans-guck-in-die-Luft-Kind. Immer mit den Gedanken wo anders und immer in meiner eigenen Welt. ADHS bedeutet für mich, ein Karussell im Kopf haben. Das heißt, an manchen Tagen wird es in einem super starken Tempo vorangetrieben und es hört und hört nicht auf sich zu drehen. Aber an manchen Tagen sitz‘ ich im Karussell und kann es genießen.“ (Rachel im Interview mit Funk)
Bei AD(H)S ist das Gleichgewicht der Botenstoffe im Gehirn verändert. Es handelt sich hierbei also um eine neuronale Andersartigkeit, die zu großen Teilen genetisch bedingt ist. Vor allem Neurotransmitter wie Dopamin und Noradrenalin spielen dabei eine wichtige Rolle. Diese beeinflussen, wie wir uns fühlen und sind für die Steuerung von Motivation, Aktivität und Fokussierung zuständig. Laut aktuellem Wissensstand wird im synaptischen Spalt, also dem Raum zwischen den Nervenzellen, zu wenig Dopamin bereitgestellt. Grund dafür ist, dass dieses nie am Zielort ankommt. Es wandert zum Teil zurück in die Präsynapse, wo es herkommt, die Signalübertragung bleibt daher schwach. Vereinfacht ausgedrückt heißt das: AD(H)S-ler*innen haben haben zu wenig von dem Glückshormon Dopamin. In der Folge werden Reize schlecht gefiltert, es herrscht ständige Reizüberflutung.
Die AD(H)S-Superkraft
Alltägliche Aufgaben, Zeit-Management und Organisation können somit zu unüberwindbaren Aufgaben werden. Herausfordernd können jegliche exekutive Funktionen sein, sowie die Fähigkeit zur Selbstregulation und -kontrolle, Entscheidungsfindung, Planung, Zielsetzung, Priorisierung, das Arbeitsgedächtnis und die Konzentrationsfähigkeit. Denn so viele Reize auf einmal erschweren die Konzentration. Aber nicht im Generellen. An dieser Stelle muss mit dem Missverständnis aufgeräumt werden, AD(H)S-Betroffene könnten sich nicht konzentrieren. Im Gegenteil: Sie können es wahrscheinlich sogar besser als die meisten anderen Menschen, jedoch nur auf die Dinge, die sie faszinieren. Dann verfallen sie in einen tranceartigen Zustand der Hyper-Fokus genannt wird und können dabei stundenlang hochkonzentriert arbeiten. Manchmal vergessen sie sogar zwischendurch etwas zu essen, zu trinken oder aufs Klo zu gehen. Damit hängt es auch zusammen, dass viele Betroffene eine Nischenbegabung haben, die ihnen einfach zuzufliegen scheint. So lernt Rachel zum Beispiel mühelos ständig neue Sprachen. Nicht selten sind AD(H)S-ler*innen überdurchschnittlich talentiert. Sie wagen sich auf ihre eigene Art und Weise an Aufgaben heranzugehen, machen sich unkonventionelle Gedanken und kommen so häufig zu Dingen, die andere sich nicht trauen würden. Heißt: AD(H)S hat definitiv seine Vorteile. Rachel und Sonja jedenfalls möchten es nicht missen. Sonja weiß vor allem die Kreativität zu schätzen, die damit einhergeht:
„Ich denke halt nicht so geradlinig, sondern um tausend Ecken. Das ist in Mathe nicht so hilfreich, aber wenn ich ein Gedicht schreibe, dann schon sehr.“
Vorurteile vom Tisch
Vorurteile zum Thema AD(H)S gibt es wie Sand am Meer. Jetzt wissen wir schon mal: Menschen mit AD(H)S brauchen nicht etwa eine Portion Extra-Aufmerksamkeit und sind nicht deshalb hyperaktiv, weil sie einfach nicht vernünftig erzogen wurden. Ein weiteres Vorurteil, dass sich gerne hält, ist das Folgende: AD(H)S sei eine Modekrankheit und Kindern würden nur Medikamente verfüttert, damit sie ihren verantwortungslosen Eltern nicht auf den Geist gehen. Sonja findet das sehr problematisch. „Weil man einfach manchmal – gerade als Kind – diese Unterstützung braucht.“ Natürlich sind wir alle mal abgelenkt. Natürlich können wir uns alle besser mit den Dingen befassen, die uns Spaß machen und sind wir ehrlich: To-Do-Lists abarbeiten gehört für gewöhnlich nicht dazu. Die Frage ist vielleicht viel mehr: Wie sehr beeinträchtigt mich das? Die Heilpraktikerin Marie-Luise Ludwig formuliert es so: „ADHS ist keine Krankheit wie Masern oder Mumps, die man eindeutig nachweisen oder ausschließen kann. ADHS hat eher Ähnlichkeit mit Übergewicht oder Bluthochdruck. Wenn man davon zu viel hat wird es kritisch.“
Genie und Wahnsinn liegen nah beieinander
Dass AD(H)S durchaus schwerwiegende Folgen haben kann, ist jedenfalls kein Vorurteil. Laut der Weltgesundheitsorganisation (WHO) ist die Gesundheit eines Menschen „ein Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens“. In diesem Sinne ist ADHS dann behandlungsbedürftig, wenn die Ausprägung der Symptome zu einer deutlichen Beeinträchtigung im Leistungsbereich und Sozialbereich führen. Auch wenn die Betroffenen darunter leiden oder gar weitere psychische Störungen als Folge drohen. Genauso wie AD(H)S Gefahr sein kann, kann es aber auch Potenzial sein. Es gibt viele berühmte Persönlichkeiten, die mit AD(H)S sehr erfolgreich waren, darunter das Genie Albert Einstein, der Komponist Wolfgang Amadeus Mozart, der Informatiker Bill Gates und höchstwahrscheinlich jede Menge erfolgreiche FLINTA*-Personen, die vielleicht nur in dieser Liste fehlen, weil sie nicht diagnostiziert wurden. Entscheidend ist jedenfalls, ob die Möglichkeit gegeben ist, mit der eigenen Andersartigkeit gut umzugehen. Und dabei ist ein förderndes Umfeld sehr hilfreich.
Unsichtbare Frauen
Zum Thema AD(H)S gibt es nach wie vor Wissenslücken – auch unter den Fachleuten. Jüngere Untersuchungen haben den aktuellen Wissenstand um neue Erkenntnisse bereichert. Erst seit den 90-er Jahren ist bekannt, dass 70 Prozent der Betroffenen AD(H)S mit ins Erwachsenenalter nehmen. Das H steht im Übrigen in Klammern, weil die Hyperaktivität bei dieser Neurodivergenz nicht zwangsläufig auftritt. Die innere Unruhe, die durch die Reizüberflutung entsteht, wird manchmal mit einem verstärktem Aktivitätsdrang kompensiert. Eine körpereigene Ausgleichsmaßnahme, die den Geist wach hält, um dadurch das Fokussieren zu erleichtern. In Relation zu neurotypischen Menschen erscheint uns das dann hyperaktiv. Bei vielen Frauen bleibt die hyperaktive Komponente aber aus. Die innere Unruhe wird nicht andauernd ins Außen getragen, jedoch bleibt sie oft im Inneren Erhalten. „Besonders bei Frauen mit hohem IQ wird AD(H)S oft übersehen. Je höher der IQ, desto besser schaffen es Frauen mit AD(H)S, ihre Symptome zu verstecken“, schreibt Dr. med. Engel. Sie ecken dementsprechend seltener in ihrem Umfeld an, als der klassische Klischee-Zappelphillipp. Auch der hibbelt natürlich nicht permanent herum – bleiben wir außerhalb des Schubladendenkens. Aber seine offensichtlichere Symptomatik kollidiert wahrscheinlicher mit dem Außen. Sie ist sichtbarer.
Fehldiagnosen
Auch mehrheitlich vertretene Rollenbilder tragen dazu bei, dass ein Mädchen nicht auffällt, wenn es ruhig, verträumt und kreativ ist. Ohne eine Diagnose ist es allerdings schwer, die nötige Unterstützung zu erhalten. In der Folge werden die eigenen Schwierigkeiten als persönliches Versagen interpretiert. Betroffene müssen sich dementsprechend stark zusammenreißen, um den Defizit zu kompensieren. Es überrascht daher nicht, dass aus diesem Stress Folgeerkrankungen resultieren. So viele Eindrücke und Gedanken auf einmal zu haben kann überfordern und macht müde. Nicht selten werden bei AD(H)S-Betroffenen andere psychische Erkrankungen diagnostiziert – beispielsweise Depressionen, Essstörungen oder Angststörungen – diese sind jedoch nicht Ursache, sondern Begleiterscheinung. Selten wird AD(H)S damit in Verbindung gebracht. Dabei ist es gut behandelbar! Ein relevanter Teil der Behandlung ist tatsächlich die Aufklärung über AD(H)S, da hieraus die Möglichkeit entsteht, einen gesünderen Umgang mit sich selbst, dem eigenen Umfeld und dem Alltag zu finden.
Wie entnebelt man den Kopf?
Oft hat sich eine Kombination aus Therapie und Medikamenten als sehr förderlich bewiesen. Letztere können einen positiven Einfluss auf die Ausschüttung von Dopamin und Noradrenalin haben. Bahar Sheikh berichtet im Missy Magazin darüber: „Für mich war jeder Tag ein kleines Wunder, an dem mein Kopf nicht vernebelt war.“ Vor lauter Grübeln war es ihr vorher oft nur mit viel Mühe möglich, aus dem Bett zu kommen, einkaufen zu gehen oder Essen zuzubereiten. Ob und wie oft jemand Medikamente einnehmen will und braucht, bleibt eine individuelle Entscheidung und ist von der Ausprägung der Symptome abhängig. Die Betroffenen selbst können sich dabei wohl am besten einschätzen. Jedenfalls kann eine Behandlung das Ende der belastenden Symptome bedeuten. Wir können es als eine „Normalisierung“ in Richtung von neurotypischem Verhalten verstehen, die dabei helfen kann, den Ansprüchen dieser Gesellschaft gerecht zu werden. Denn hier dürfen wir nicht den ganzen Tag nur Mozart zu sein: Wir leben in einer Gesellschaft, in der Pünktlichkeit, Selbstdisziplin und Termine selbstverständlich vorausgesetzt werden und in der kaum ein Weg an Schule und Arbeit vorbei führt, wenn irgendwann die eigenen Brötchen verdient werden wollen.
Niemand sollte mehr durchs Raster fallen
Und auch bei der Behandlung ist Gender nicht unwichtig: Dr. med. Engel berichtet davon, dass viele AD(H)S-Frauen sehr sensibel auf hormonelle Veränderungen reagieren und ihre Symptome häufig zyklusabhängig sind. Bedeutet: Der Zyklus könnte auch in der möglichen Medikation eine Rolle spielen, was untersucht werden sollte. Beim Thema AD(H)S ist zu beachten, dass es sich um ein Spektrum handelt. Heißt: weiblich gelesene Menschen mit AD(H)S sind nicht alle kreativ-verträumt und verhalten sich unauffällig, männlich gelesene Personen mit AD(H)S sind nicht immer hyperaktiv und rebellisch. Ja, es gibt sie, die Graustufen – nicht nur schwarz und weiß. Wir müssen anfangen, uns vorurteilsfrei und differenziert mit Dingen wie psychischer Erkrankung zu befassen. Und wir brauchen ein Gesundheitssystem, das das auch tut – eines, das Genderaspekte berücksichtigt und niemanden mehr durchs Raster fallen lässt. Aber vor allem brauchen wir ein System, das Neurodivergenz nicht nur akzeptiert, sondern auch versteht und wertschätzt.
„In einem System, das so stark auf die Ausbeutung unserer Ressourcen ausgelegt ist, dass oft selbst neurotypische Menschen daran zerbrechen, ist es für Menschen mit ADHS besonders schwierig, ihren Bedürfnissen nachzugehen. Dabei sind wir auch lustig, kreativ, direkt, ehrlich, manchmal hyperfokussiert und sehr schnell. Wenn die negative Selbsterfahrung nicht alles überschattet, ist meine Superkraft, den Spaß zu priorisieren und das gute Leben zu leben.“ (Bahar Sheikh im Missy Magazin)
Imke Bolz
[Beratung und erste Hilfe können AD(H)S-Betroffene, Angehörige, Therapeut*innen, Lehrer*innen und alle, die das Thema beschäftigt, unter folgendem Link finden: https://www.adhs-deutschland.de/Home.aspx. Weiterhin sind auf derselben Website Informationen über Diagnose- und Therapiemöglichkeiten, sowie Anlaufstellen hierfür auffindbar. Telefonnummern für persönliche Gespräche sind vermerkt unter: http://www.adhs-deutschland.de/Home/Unser-Angebot/Telefonberatung.aspx. Für Menschen, die speziell in Bremen Hilfe suchen, könnte außerdem diese Seite interessant sein: https://www.neurodivers-bremen.de/.]
Inoa meint
Danke. Bei mir wurde zuerst eine Hochbegabung festgestellt, später dann eine komplexe PTBS. An ADHS hat niemand gedacht. Erst nach über 10 Jahren Therapie, als ich immer noch mit Basics zu kämpfen hatte, bin ich langsam auf den Trichter gekommen – und eigentlich auch nur, nachdem meine Schwester festgestellt hatte, dass sie ADHS hat. Ich hatte mich wirklich mit fast allen Diagnosen schon beschäftigt, nur gerade ADHS nicht… als ich damit zu meinem Arzt ging, war nach kürzester Zeit klar, was Sache ist.
Leider vertrage ich die Stimulanzien sehr schlecht und ein Pegelmedikament ist für mich keine Option. Aber schonmal zu wissen, dass man kein medizinischer Sonderfall ist, hilft.
Was mich immer wieder schockt, ist, wie schlecht der Wissensstand bei den Fachleuten ist. In einem Jahr haben mich 13 (!) Ärzte getroffen und keiner kam auf ADHS. Erst vor kurzem wollte man mir an einer Uni-Ambulanz wieder erklären, dass sich PTBS und ADHS ausschließen – dabei korreliert es sogar genetisch. Auf Info-Seiten zu ADHS wird sogar der Zusammenhang erklärt, gerade Frauen mit ADHS geraten oft in toxische bis gewalttätige Beziehungen, weil sie vom „Kick“ der oft sehr extremen Partner angezogen werden. (Die dann selbst auch gerne mal ein unbehandeltes ADHS haben, da gibt es auch schon genug Material online zu.) Es ist wirklich bitter, wie hier der Wissensstand hinterher hinkt.
Also vielen Dank für die Aufklärung hier!