Digitale Gewalt ist vor allem für die junge Generation zur traurigen Normalität geworden. Laut einer Umfrage der gemeinnützigen Organisation HateAid, die sich für Menschenrechte im digitalen Raum einsetzt, ist jede zweite Person in der Altersgruppe der 18 bis 35-Jährigen in der EU bereits selbst Opfer digitaler Gewalt geworden. Frauen und Männer sind dabei prozentual in einem ähnlichen Ausmaß betroffen, 52,4 Prozent der befragten Männer und 47,5 Prozent der Frauen haben bereits digitale Gewalt erlebt. Die Formen der digitalen Gewalt sowie deren Auswirkungen unterscheiden sich zwischen den Geschlechtern dagegen deutlich.
Der Begriff der digitalen Gewalt ist kein rechtlicher Begriff, sondern der Oberbegriff für eine Vielzahl von Phänomenen der Gewaltausübung im Netz, und umfasst weit mehr als nur Hasskommentare. Die Organisation HateAid definiert digitale Gewalt als „verschiedene Formen von Belästigung, Herabwürdigung, Diskriminierung oder sozialer Isolation im Internet oder mit Hilfe elektronischer Kommunikationsmittel. […] Die Orte digitaler Gewalt sind vielseitig: Soziale Netzwerke, Messenger Apps, Chat-Räume, Gaming-Plattformen oder das E-Mail Postfach sind nur einige davon.“
Studien zufolge sind Männer zwar quantitativ häufiger von digitaler Gewalt betroffen als Frauen, die Erfahrungen mit digitaler Gewalt sind aber geschlechtsspezifisch und für Frauen oft folgenschwerer. Denn im Vergleich zu Männern erleben Frauen deutlich häufiger digitale Gewalt aufgrund ihrer Geschlechterzugehörigkeit. Ein Umstand, der durch Intersektionalität noch verstärkt werden kann. Ein prominentes Beispiel dafür ist die deutsche Journalistin und Fernsehmoderatorin Dunja Hayali, die nicht nur aufgrund ihrer politischen Meinung, sondern auch wegen ihres Geschlechts, ihrer Homosexualität und der irakischen Herkunft ihrer Eltern vermehrt Opfer digitaler Gewalt wurde. Zudem sind die Formen der digitalen Gewalt, denen Frauen sich ausgesetzt sehen, andere. Frauen werden im Netz weit häufiger sexualisiert als Männer, sei es durch anzügliche Kommentare oder durch bildbasierte Gewalt, wie zum Beispiel die Veröffentlichung vermeintlicher Nacktbilder von Annalena Baerbock während des Wahlkampfes zeigt. Auch wird der weibliche Körper öfter für die Erstellung von Deep Fakes verwendet, bei denen Täter*innen diesen zum Beispiel in pornografische Darstellungen einfügen. Einer amerikanischen Studie zufolge sehen auch 61 Prozent der Frauen digitale Gewalt als ein großes Problem an, während dieser Wahrnehmung nur 48 Prozent der befragten Männer zu stimmen.
Welche Formen digitaler Gewalt gibt es?
Digitale Gewalt kann im öffentlichen Raum, zum Beispiel in den Sozialen Medien, durch fremde und häufig anonym agierende Täter*innen, ausgeübt werden. Die Täter*innen können aber auch Teil des persönlichen Umfelds der Opfer sein, zum Beispiel (Ex-)Partner*innen, Familienmitglieder oder Arbeitskolleg*innen. In beiden Fällen ist digitale Gewalt oft eng verknüpft mit analoger Gewalt, das heißt ‚reale‘ Gewalt wird im digitalen Raum fortgesetzt oder Gewaltaufforderungen im Netz wird in der Realität gefolgt. Die Besonderheiten digitaler Gewalt, die sie von analoger Gewalt unterscheidet, bestehen häufig in der Anonymität der Täter*innen, in der Schnelligkeit der Ausbreitung der Gewalt sowie darin, dass diese rund um die Uhr stattfindet und ein großes virtuelles Publikum erreicht. Zu den ‚populärsten‘ Formen digitaler Gewalt gehören:
Bildbasierte Gewalt: zum Beispiel unerlaubte Veröffentlichung von intimen Bildern & Videos und ungefragter Erhalt von Nacktbildern
Cybermobbing: Beleidigungen, Bedrohung, Bloßstellen und so weiter einer Person über einen längeren Zeitraum hinweg
Deepfakes: gefälschte Video- oder Audio-Dateien, zum Beispiel werden politische Telefongespräche durch Stimmimitate gefälscht
Doxxing: private Daten werden ungefragt gesammelt und veröffentlicht
Desinformationen: Verbreitung von Falschinformationen, die gefährliche Konsequenzen zur Folge haben können
Hatespeech: digitale Form von Menschenfeindlichkeit, die sich gegen Personen richtet, die einer bestimmten Gruppe zugeordnet werden
Shitstorm: Kommentarhagel aus Kritik, Hass, Beleidigungen und Drohungen, von dem vor allem Personen des öffentlichen Lebens betroffen sind
Welche Auswirkungen hat digitale Gewalt auf die Betroffenen?
Viele der Betroffenen, die in der digitalen Welt Opfer von Gewalt werden, zeigen ähnliche Folgesymptome wie andere Gewaltopfer. Das Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft (IDZ) hat im Jahre 2019 eine Studie zu den Erfahrung deutscher Internetnutzer*innen mit Hass im Netz durchgeführt und Betroffene bezüglich der Auswirkungen ihrer digitalen Gewalterfahrungen befragt. Die Ergebnisse zeigen deutlich, dass Frauen unter diesen verhältnismäßig deutlich mehr leiden als Männer. Zum Beispiel berichten 27 Prozent der Betroffenen von Angst oder Unruhe, 36 Prozent dieser Personen waren weiblich und nur 20 Prozent männlich.
Ähnliche geschlechtsspezifische Unterschiede lassen sich auch für andere Folgesymptomen beobachten: 34 Prozent der Betroffenen sprachen von Erfahrungen mit emotionalem Stress (weiblich: 42 Prozent, männlich: 27 Prozent), 20 Prozent von Depressionen (weiblich: 23 Prozent, männlich: 16 Prozent), und 24 Prozent entwickelten Probleme mit dem eigenen Selbstbild (weiblich: 35 Prozent, männlich: 16 Prozent). Zudem berichteten beide Geschlechter über Probleme im Beruf und mit dem eigenen persönlichen Umfeld. Digitale Gewalt wirkt sich aber nicht nur auf das Privatleben der Betroffenen aus. Über die Hälfte der Befragten gab an, ihre politische Meinung aufgrund von Angst vor digitalen Gewalterfahrungen weniger im Internet zu äußern. Dieser ‚Silencing-Effekt‘ tritt bei Frauen ebenfalls deutlich stärker auf, denn 39 Prozent der befragten Frauen stimmten dieser Aussage zu, im Vergleich zu 27 Prozent der Männer. Somit schränkt digitale Gewalt nicht nur die freie Meinungsäußerung ein, sondern es entsteht der Anschein, dass Hasskommentare die Meinung der Mehrheit abbilden.
Wie kannst du gegen digitale Gewalt vorgehen?
Damit du selbst erst gar nicht Opfer von digitaler Gewalt wirst, kannst du bereits präventiv dagegen vorgehen. Dies erfordert den Ausbau deiner eigenen digitalen Kompetenzen, damit du deine Privatsphäre im Netz besser schützen lernst und Täter*innen keinen Zugang zu relevanten Informationen oder Bildmaterial lieferst. Dazu gehört zum Beispiel das Erstellen langer, individueller Passwörter und die Beantragung einer Melderegistersperre.
Falls du bereits Opfer von digitaler Gewalt geworden bist, kannst du zunächst auch selbst Maßnahmen ergreifen. Wenn es sich um einen Hasskommentar in den Sozialen Medien handelt, kannst du diesen löschen oder bei der Plattform melden, falls es gegen deren ‚Netiquette‘ (Regeln für einen angemessene Kommunikation) verstößt. Zudem kannst du auch eine Anzeige bei der Polizei aufgeben, die gegebenenfalls ein Zivil- oder Strafverfahren einleitet. Falls du Unterstützung benötigst, kannst du dich an Beratungsstellen wie HateAid wenden.
Solltest du Zeugin digitaler Gewalt werden, ist deine digitale Zivilcourage gefragt. Du kannst Hasskommentare gegenüber anderen selbst anzeigen oder diese melden. Auch durch ‚Gegenrede‘, das heißt durch eine Reaktion mit Argumenten auf Hasskommentare oder ‚Allyship‘, der Unterstützung durch einen Like oder bestätigenden Kommentar, kannst du Betroffene unterstützen.
HateAid hat betreffend den adäquaten Umgang mit digitaler Gewalt auch einen eigenen Guide veröffentlicht, der dir unter anderem erklärt wie du rechtssichere Screenshots machst.
Wie muss strukturell gegen digitale Gewalt vorgegangen werden?
Laut der Studie des IDZ wünschen sich alle Befragten, dass auf struktureller Ebene verstärkt gegen digitale Gewalt vorgegangen wird. Dazu gehört die Sichtbarmachung von digitaler Gewalt im öffentlichen Diskurs und deren Anerkennung als eine ernstzunehmende Gewaltform. Zudem müssen mehr Beratungsangebote geschaffen und diese adäquat finanziert werden. Auch der Umgang der Behörden mit digitaler Gewalt bedarf massiver Verbesserung, denn die Erfolgschancen einer Anzeige sind momentan gering. Bei den Behörden fehlt es häufig an der notwendigen Sensibilisierung für das Thema, Betroffene werden nicht ernst genommen und teilweise für die Hasskommentare selbst verantwortlich gemacht. Zudem sind viele Verfahren mit einem hohen Kostenrisiko verbunden, das vor allem für Frauen eine Belastung darstellt. Zu guter Letzt: auch die Plattformen müssen zukünftig stärker in die Pflicht genommen werden und eigenständig gegen Hass im Netz vorgehen.
Empfehlung zu dem Thema ‚Digitale Gewalt gegen Frauen in der Öffentlichkeit‘:
Die deutsche Politikerin Sawsan Chebli schildert in ihrem Buch ‚Laut‘ ihre eigenen Erfahrung mit digitaler Gewalt.
Marit Hertrampf
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