Am Montag, den 9. November, jährte sich wieder die Reichspogromnacht des Jahres 1938. In der folgenschweren Nacht zwischen dem 9. und 10. November gingen die Nationalsozialisten gezielt und flächendeckend gegen jüdische Bürger*innen vor: Synagogen und Friedhöfe wurden zerstört, Geschäfte angezündet, hunderttausende Menschen deportiert, ermordet oder in den Selbstmord gezwungen.
Am Dienstag, den 10. November, fand im historischen Rathaus eine Veranstaltung zum Gedenken dieser Nacht statt, die Nacht der Jugend, veranstaltet von der Bremer Senatskanzlei und dem Sportgarten e. V. Die Geschichte dieser Veranstaltung geht über 18 Jahre zurück und das Motto der diesjährigen Veranstaltung „Welcome“, das schon im letzten Jahr festgelegt wurde, erscheint in diesen Tagen vor dem Hintergrund der Flüchtlingssituation mit einer zusätzlich wichtigen Bedeutung.
Keine Statisten, sondern Hauptakteure
Unter den Anwesenden waren auch Gäste mit besonderem Hintergrund – Zeitzeugen erster und zweiter Generation von fremdenfeindlichen Aktionen und der Zeit der Nationalsozialisten. Ibrahim Arslan ist einer von ihnen, ein Überlebender des Brandanschlags auf zwei Möllner Häuser türkischer Familien des Jahres 1992. Im Feuer starben Yeliz Arslan und Ayşe Yilmaz, beides Kinder, sowie die 51-jährige Bahide Arslan. Ibrahim Arslan bedankte sich für die Möglichkeit, hier sprechen zu dürfen. Noch vor Bürgermeister Carsten Sieling kam er auf die Bühne, eine Geste des Respekts und Anerkennung gegenüber den Opfern, die er sehr zu schätzen wüsste. Was geschehen ist, nicht nur im Bezug auf die grausamen und feigen Attentate in Mölln, sondern auch vor fast 80 Jahren, dürfe weder vergessen noch verschleiert werden. Dass Opfer, Zeugen, die hier organisierenden Jugendliche und auch Bremer Flüchtlinge zusammen einen Ort der Erinnerung und Mahnung kreieren, erfülle seinen Wunsch nach Solidarität und setze ein deutliches Zeichen gegen Rechtsradikale und Extremismus. Opfer seien keine Statisten in den Taten, so Arslan, sondern die Hauptzeugen, und ihre Geschichten müssen Gehör finden, um neue Taten zu verhindern. Die eigens von den Angehörigen und Opfern organisierte Gedenkveranstaltungen zu den Brandanschlägen, „Reclaim and Remember“, finden nächste Woche statt, wozu Ibrahim Arslan herzlich einlädt.
Die zweite Generation der Opfer
Eine zweite Sprecherin ist Dr. Miriam Dvir, eine Frau aus der zweiten Generation der Zeitzeugen des Holocausts. Das Trauma, das ihre Eltern als Holocaust-Überlebende davon trugen, lebt in Miriam weiter, die von ihrem Leben als Kind, das selbst von dem Holocaust indirekt beeinflusst wurde, erzählt. Miriams Großeltern, die jüdischen Bremer Heinrich und Franja Bialystock, starben beide im Konzentrationslager, während ihren Eltern die Befreiung gelang, und Miriam wurde nach ihrer Tante benannt, die ebenfalls in Auschwitz starb. Ein Teil von ihrer Mutter, betont Miriam Dvir, blieb verschlossen durch die Erfahrungen im Konzentrationslager und zwar so sehr, dass sie als Tochter immer das Gefühl hatte, ihre Mutter nicht ganz gekannt zu haben. Die Eltern, die durch ihre Erfahrungen übervorsichtig und stark traumatisiert waren, prägten mit ihrem Verhalten auch die Kinder. Somit zerstört der Holocaust nicht nur die erste, sondern auch die zweite Generation von Menschen, und wirkt damit länger als nur in der Zeit der Verbrechen. Bremens Engagement um die jüdische Geschichte, sichtbar in den vielen Stolpersteinen im Gedenken an Juden, ist damit gerade in heutiger Zeit wichtig, um nicht zu vergessen, wie viel Schaden der Holocaust angerichtet hat, so Dvir.
Welcome: Offen für alle
Auch unter den Sprechern war Bürgermeister Carsten Sieling, der dieses Jahr das erste Mal als Bürgermeister an der Nacht der Jugend teilnimmt – jedoch nicht seine erste Nacht der Jugend als Besucher, wie er versichert. Angesichts des von Besuchern überquellenden Rathauses empfinde er große Freude, vor allem, da das Motto „Welcome“ ja eben dies bedeute: Willkommen, für alle, im Sinne der großen Parole der aktuellen Zeit, „Refugees Welcome“. Dass man auch Flüchtlinge hier als Besucher auf der Veranstaltung sieht, freue ihn besonders. Schon bei der Gedenkveranstaltung zur Pogromnacht, an der er am Montag teilgenommen habe, lernte er Dr. Miriam Dvir kennen. Ihr und Ibrahim Arslan dankt er für ihr Kommen, denn Zeugen wie sie seien wichtig um zu zeigen, dass Verbrechen nicht vergessen werden und dass alles dafür in Bewegung gesetzt wird, dass sie auch nicht wiederholt werden. Die Vergegenwärtigung von Wachsamkeit und Solidarität ist nur möglich mit Menschen, die von den Folgen der Gewalt berichten und als Mahnung dienen.
Das Programm der Nacht der Jugend war ebenso vielfältig wie die Besucher. In gefühlt jeder Altersklasse, aus jedem Hintergrund und vor allem aus verschiedenen Kulturen und Religion findet man Menschen zwischen den vielen Aufführungen, bestehend aus Theater, Tanz, Musik und Literatur. Die sich jährlich wiederholende Veranstaltung spiegelt Bremens Offenheit und Engagement um Vermittlung und Zusammenhalt wieder und setzt ein wichtiges Zeichen in Zeiten, wo Toleranz und Miteinander so elementar sind.
Kim-Nicola Hofschröer
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