Ist euch schon mal aufgefallen, dass Schreibtischstühle oft zu groß für weibliche Körper sind? Oder Smartphones zu klobig für die durchschnittliche Frauen-Hand? Noch viel wichtiger: wusstet ihr, dass die Sterbeziffer für Herzkrankheiten bei Frauen weitaus höher liegt als bei Männern? Und war euch bewusst, dass das alles miteinander zusammenhängt?
Disclaimer: Im folgenden Text werden teilweise geschlechtsbinäre Äußerungen verwendet. Damit sollen keine Menschen ausgeschlossen werden, sondern es wird aufgezeigt, dass Menschen (und vor allem ihre Körper) gesellschaftlich, strukturell und – in diesem konkreten Fall – wissenschaftlich bedingt immer noch in binäre Kategorien eingeteilt werden, hier also in weibliche oder männliche Körper. Dieses Denken soll nicht reproduziert werden, sondern hier wird die Perspektive von den Instanzen aufgezeigt, die mit dieser Normativität ihre Entscheidungen rechtfertigen.
Bevor Produkte auf den Markt kommen, werden sie getestet. Dafür werden Studien durchgeführt, Testpersonen befragt und alle möglichen anderen Parameter beachtet. Die Testpersonen sind jedoch häufig männlich, daher ist der Durchschnitt, auf den sich in diesen Studien berufen wird, der männliche Standard. Auf geschlechtsspezifische Unterschiede wird oft kein Augenmerk gelegt. Medizinisch gesehen kann das gefährlich werden, beispielsweise bei den schon erwähnten Herzkrankheiten oder Medikamenten, die bei Frauen nicht wirken. Außerdem zeigt es auf, dass der männliche Körper als die Norm angesehen wird, während der weibliche Körper als Abweichung eingeordnet wird. Dabei sind diese binären Kategorien viel zu klein, als dass dort alle Menschen ihren Platz finden könnten.
Sexistische Forschung
Aber warum werden weibliche Personen immer wieder von diesen Testphasen ausgeschlossen? Viele der Gründe sind leider sexistischer Natur.
Zum einen ist der FLINTA*-Anteil in der Forschung immer noch kleiner als der männliche. Laut der UNESCO liegt der Anteil unter den Wissenschaftler*innen nur bei 28 Prozent. Und oft scheint dort nach dem Motto verfahren zu werden: Es wird das erforscht, was bekannt ist. Männliche Forscher kennen sich mit anderen männlichen Personen besser aus und fühlen sich daher wohler, diese zu beforschen. Das lässt jedoch viele blinde Flecken, vor allem, wenn davon ausgegangen wird, dass es sich bei dem Forscher um einen gesunden, weißen Mann handelt. Hormonelle Schwankungen, doppelte Belastung durch Care-Arbeit, der weibliche Zyklus; alles sehr wichtige und relevante Themen, die vermutlich weniger behandelt werden, da entweder die Expertise fehlt oder das Bewusstsein für solche „Frauen-Themen“ in männerdominierten Bereichen überhaupt nicht besteht.
Das liegt auch daran, dass im Medizin-Studium Gender-Medizin teilweise überhaupt nicht vorkommt, es gibt in Deutschland überhaupt nur einen Lehrstuhl für Geschlechtermedizin: An der Charité in Berlin. Geschlechterspezifische Aspekte im Kontext von Gesundheit werden in der Mehrheit überhaupt nicht unterrichtet, weshalb die Sensibilität für solche Aspekte in medizinischen Berufen fehlt. Ein krasses Beispiel dafür ist der Unterschied beim Umgang mit erektiler Dysfunktion im Gegensatz zu PMS. Erektile Dysfunktion, also die Unfähigkeit, eine Erektion zu bekommen, betrifft bei 60 bis 96-Jährigen Männern 50 Prozent. Das prämenstruelle Syndrom (PMS), also körperliche und emotionale Beschwerden ein bis zwei Wochen vor der Periode, betrifft 90 Prozent aller Frauen. Trotzdem gibt es zu erektiler Dysfunktion fünfmal mehr Studien, mehr Medikamente und mehr hilfreiche Informationen (Criado-Perez).
Auch im Zuge der Covid19-Erkrankung wurden erst nach einiger Zeit die Daten geschlechtsspezifisch ausgewertet. Dann jedoch stellte sich heraus, dass Männer ein höheres Risiko besitzen einen schweren Verlauf zu haben, während Frauen belasteter in der Hinsicht auf Long Covid sind. Auch die Impfung zeigte, dass sich bei vielen menstruierenden Personen der Zyklus durch die Zweit -oder Drittimpfung verschob. Das hätte man vielleicht wissen können, wenn während der Entwicklung des Impfstoffes das Geschlecht miteinbezogen worden wäre.
Frauen sind so kompliziert…
Die fehlende Sensibilität zeigt sich auch im Umgang mit den verschiedenen Zyklusphasen in Studien. Menschen mit Gebärmutter haben Hormonschwankungen, je nachdem in welcher Zyklusphase sie sich befinden. Repräsentativ und sinnvoll für Studien wäre also, Personen aus jeder Zyklusphase miteinzubeziehen. Dort wird sich aber gerne auf das Argument berufen, dass Männer und Frauen gar nicht so unterschiedlich wären und dieser Mehraufwand nicht nötig sei. Das ist aber einfach falsch. Menschen mit Gebärmutter können wegen des wechselnden Hormonhaushaltes ganz unterschiedlich auf Medikamente reagieren, variierend nach Zykluswoche. Außerdem sind oft die empfohlenen Dosen bei Medikamenten zu hoch für die durchschnittliche Frau. Alleine bei schwangeren Personen ist merkbar: es gibt Unterschiede und diese zu ignorieren kann fatale gesundheitliche Folgen haben. Natürlich ist es oft bei schwangeren Personen schwerer, diese miteinzubeziehen, weil das Risiko zu hoch ist. Würden jedoch mehr weibliche Personen in der Summe miteinbezogen werden, könnten sehr wahrscheinlich aus diesen Ergebnissen auch wichtige Erkenntnisse für Schwangere gezogen werden. Die Wissenslücke über weibliche Gesundheit verhindert also oft, dass überhaupt anerkannt wird, dass es Unterschiede gibt und dementsprechend verfahren wird.
Als weiterer Grund wird oft angeführt, dass es schwerer sei, Frauen für Studien zu rekrutieren. Der Grund dahinter ist aber kein fehlendes Interesse oder Ähnliches, sondern es ist einfach wahrscheinlicher, dass Frauen in ihrer Freizeit Sorge- und Reproduktionsarbeit übernehmen und daher nicht an diversen Studien teilnehmen können.
Konsequenzen?
2019 veröffentliche Caroline Criado- Perez das Buch „Invisible Women: Exposing Data Bias in a World Designed for Men”, über welches wir auch schon berichteten. Dort legt sie die geschlechtsspezifischen Unterschiede bei der Erhebung wissenschaftlicher Daten offen, die sie einige Jahre lang sammelte, analysierte und auswertete. Das Buch stieß dazu an, weiter darüber in Diskurs zu treten, welche Konsequenzen Datenlücken haben können und wie man diese Lücken schließen kann.
Dort wird beispielsweise auch beschrieben, dass es seit 1993 illegal sei, „Frauen nicht in staatlich finanzierte klinische Studien einzuschließen“ (Criado-Perez, Singh). Nichtsdestotrotz finden viele Pharmafirmen ihre Schlupflöcher, denn solange die Studie staatsunabhängig stattfindet, muss sich die Firma nicht an diese Richtlinie halten (Criado-Perez, Singh). Trotzdem setzt sich, wie bereits erwähnt, die Charité in Berlin, eine der größten Universitätskliniken Europas, vor allem für den interdisziplinären Austausch im Bereich der geschlechtersensiblen Medizin ein und hat ein eigenes Institut für Geschlechterforschung. Außerdem führen Melinda Gates und Hillary Clinton Data2x an, eine Plattform, die sich auf die Verfügbarkeit geschlechtsspezifischer Daten spezialisiert hat und dazu beiträgt, den Gender Data Gap zu schließen.
Das Thema ist auch darüber hinaus gesellschaftlich unglaublich relevant, weil man in diesem Kontext nicht nur über die Ungleichheit zwischen Männern und Frauen in der Forschung reden kann, sondern auch darüber, dass repräsentative Daten von anderen Minderheiten fehlen. Die Annahme, dass der „normale“ Mensch der gesunde, weiße, heterosexuelle Mann sei, ist unzutreffend. Dadurch sind BIPOC, LGBTQ+ oder Menschen mit geistigen und körperlichen Beeinträchtigungen exkludiert, ebenso wie die Mehrheit der Menschen: Frauen.
Anne
Literaturhinweise :
Criado- Perez, Caroline; Singh, Stephanie (2020): Unsichtbare Frauen. Wie eine von Daten beherrschte Welt die Hälfte der Bevölkerung ignoriert. Deutsche Erstausgabe, 1. Auflage (btb).
Hornberg, Claudia; Pauli, Andrea; Wrede, Birgitta (2016): Gendersensibilität und Geschlechterwissen als Kernkompetenz in der Medizin. Voraussetzung und Chance für eine geschlechtergerechte Gesundheitsversorgung. In: Claudia Hornberg, Andrea Pauli und Birgitta Wrede (Hg.): Medizin – Gesundheit – Geschlecht. Wiesbaden: Springer Fachmedien Wiesbaden, S. 343–363.
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