Filme prägen unser (Seh-)Verständnis von Gesellschaft und die Figuren in ihnen beeinflussen unseren Blick auf Geschlecht und Rollenbilder. Es gibt den Bechdel-Test zur Erfassung von Stereotypisierung von Frauen im Film und es gibt die Vereinigung ProQuote, die sich für eine diversere und gendergerechte Medienlandschaft und somit Gesellschaft einsetzt. Um eine Idee davon zu bekommen, welche aktuellen Filme es jenseits der gängigen Narrative über Geschlecht und Rollenbilder gibt, werden hier drei Filme der Berlinale 2020 vorgestellt. Diese Filme liefen in ganz unterschiedlichen Sektionen: Im Wettbewerb um den goldenen Bären, in der Sektion Panorama oder Generation Kplus. Bei der Preisverleihung gingen diese Filme zwar leer aus, dennoch sind sie es wert, hier Beachtung zu finden. Denn sie haben alle etwas gemeinsam: Sie wurden von Frauen inszeniert und gestehen ihren Protagonist*innen spannende Rollen zu, die weder eindimensional sind noch klar den gängigen Geschlechterklischees zugerechnet werden können.
Von alternativen Helden und Freundschaft im Wilden Westen
Kelly Reichardt hat mit First Cow, der im diesjährigen Wettbewerb um den goldenen Bären konkurrierte, eine alternative Erzählung zum klassischen Westerngenre mit seinen starken und mutigen „Macho“-Heldenfiguren geschaffen. Im Fokus des Films steht die Freundschaft von Otis „Cookie“ Figowitz und King-Lu im Wilden Westen Anfang des 19. Jahrhunderts.
Wir befinden uns in einer Zeit, in der der amerikanische Kontinent aus europäischer Sicht noch nicht komplett erschlossen ist. Der Reichtum an Land und Bodenschätzen, scheinbar unermesslich, zieht neue Immigrant*innen aus Europa an und lässt Siedler*innen von der immer dichter besiedelten Ostküste gen Westen ziehen. Man befindet sich an der so genannten frontier, also der Grenze zwischen dem besiedelten, „zivilisierten“ Osten und dem vermeintlich wilden, unbesiedelten und unzivilisierten Westen. Dieser Westen war und ist bis heute ein Mythos – schließlich war er ein bereits besiedelter und gewachsener Kulturraum. Die hier lebende indigene Bevölkerung wurde durch die Landnahme immer weiter nach Westen verdrängt. Solange es noch genug Land im Westen gab, geschah dies anfangs kaum wahrnehmbar.
In diesem Setting leben Cookie und King-Lu. Sie teilen sich eine Hütte in einem Fort in den Wäldern Oregons. Allerdings sind sie so ganz anders als die anderen Bewohner*innen dort. Die Felljäger, die nach und nach die Biberbestände der Region ausrotten (werden), Glücks- und Kartenspieler, Betrunkene und Grundbesitzer wirken allesamt wie Typen, denen man lieber nicht alleine begegnen möchte. Im Kontrast dazu, sanft und witzig, Cookie und King-Lu. Dies wird gleich zu Beginn deutlich, als wir Cookie dabei zuschauen, wie er Pilze sammelt (sammeln, nicht jagen) und dabei behutsam einem Salamander wieder auf die Beine hilft. Im Anschluss rettet er King-Lu, einen ihm bis dahin Unbekannten, das Leben – der Beginn ihrer Verbundenheit.
Die beiden gehen fischen, stopfen Socken, fegen und träumen von einem besseren Leben als Hotel-, Bäckerei- oder Farmbesitzer. Sie fangen an, von Cookie gebackene Küchlein auf dem örtlichen Markt zu verkaufen. Der Plan: Mit dem Erlös irgendwann in den Süden aufzubrechen, um ihre Träume zu verwirklichen. Um das begehrte Gebäck herstellen zu können, benötigen sie allerdings einen wichtigen und seltenen Rohstoff: Milch. Dafür melken sie heimlich nachts die einzige Kuh des Ortes, Besitz des englischen Grundbesitzers und „Dorfsheriffs“.
Der Film taucht seine Figuren und die Landschaft in warmes Licht mit herbstlichen Farben. Die Kamera nähert sich diesen ebenso behutsam wie beobachtend. Die zwei Protagonisten dieser besonderen Männerfreundschaft erspielen sich mit Leichtigkeit die Sympathie der Zuschauer*innen. Neben der Freundschaft werden auch der American Dream, das Kapital, die Ausbeutung des Landes und Immigration thematisiert. Denn alle Amerikaner*innen seien Immigrant*innen, sagt Regisseurin Reichardt und kommentiert damit auch die heutige Einwanderungspolitik der USA.
First Cow von Kelly Reichardt (USA), nominiert für den Wettbewerb um den goldenen Bären
Gefährliche Familienbande
Nach dem Unfalltod ihrer Mutter kommt die 17-jährige Ida zu der ihr bis dato nicht bekannten Tante. Tante Bodil lebt mit ihren drei erwachsenen Söhnen zusammen und herrscht über Familie und das gemeinsame Unternehmen. Der Tod der Mutter ist nur kurz Thema. Ida schnell in den Familienalltag integriert und ist von dem engen Familienzusammenhalt fasziniert. Doch schon bald muss sie erkennen, dass die Familie in kriminelle Machenschaften verwickelt ist und sie selbst immer mehr hineingezogen wird. Die Gefahr lauert, so wird den Zuschauer*innen wie auch Ida im Verlauf dieses dänischen Thrillers klar, nicht außerhalb, sondern innerhalb der eigenen vier Wände. Regisseurin Jeanette Nordahl, die hier zum zweiten Mal mit Autorin Ingeborg Topsøe zusammengearbeitet hat, ist mit ihrem Langfilm-Debüt ein spannender Film mit tollem Cast gelungen.
Als stille, ihre Umgebung genau beobachtende Ida debütiert Jungschauspielerin Sandra Guldberg Kampp. Zu Drehbeginn war sie, ebenso wie die von ihr dargestellte Ida, erst 17 Jahre alt. Die Tante Bodil wird gespielt von Sidse Babett Knudsen, die Vielen als dänische Premierministerin Birgitte Nyborg aus der Serie Borgen bekannt sein dürfte. Ihre Figur ist es auch, die diesen „Mafiafilm“ so besonders macht, denn sie passt nicht zu den gängigen Rollenklischees. Ihre Rolle lässt sich nicht in eindimensionale Gut-Böse-Schema pressen. Bodil ist beides – fürsorgliche, liebevolle Mutter und knallhartes Oberhaupt der Familie und der Geschäfte. Es geht hier aber vordergründig nicht um das Geschäft, sondern vielmehr um die Liebe und die Verbindungen innerhalb der Familie, von denen die Gefahr ausgeht. Der vor allem Frauen so oft zugeschriebene Satz „Family comes first“ bekommt hier eine neue Bedeutung mit Beigeschmack.
Kød & Blod von Jeanette Nordahl (Dänemark), nominiert in der Kategorie Panorama.
Mamá, mamá, mamá
Was passiert, wenn man sowohl vor als auch hinter der Kamera mit einem rein weiblichen Cast und Crew zusammenarbeitet? Sol Berruezo Pichon-Rivière (Argentinien) berichtet im Filmgespräch, dass sie für ihren Debütfilm nicht nur Künstlerinnen zusammenbringen, sondern für die weiblichen Themen, die sie mit besonders jungen Darstellerinnen verhandelt, auch eine intime Atmosphäre am Set schaffen wollte. Alle sollten sich wohlfühlen, niemals „exposed“, so Pichon-Rivière. Stichwort: Male gaze. Dieser Begriff geht auf Laura Mulvey zurück und meint, kurz gesagt, den bestimmenden männlichen Blick, der seine Fantasie und patriarchale Rollenbilder auf die passive Frau projiziert und diese somit formt. Sie wird nicht nur „angesehen“, sondern somit auch zur Schau gestellt. Nicht nur für die 24-jährige Regisseurin und Drehbuchautorin ist es der erste Langfilm, auch für die zwei nach Berlin mitgereisten Schauspielerinnen Chloé Cherchyk und Agustina Milstein war es die erste Arbeit beim Film.
Im Zentrum von Mamá, mamá, mamá steht die 12-jährige Cleo, gespielt von Agustina Milstein. Gleich zu Beginn stirbt Cleos Schwester Erin bei einem Badeunfall im familieneigenen Pool. Seitdem übernachtet sie bei ihrer Tante und ihren drei Cousinen. Die Mutter gleicht einem Phanton. Sie ist entweder nicht ist nicht da oder anwesend abwesend in ihrer Trauer. Der Film zeigt das Zusammenleben aus der Perspektive der Mädchen. In ihrer Trauer um Erin bilden sie ein Kollektiv und finden darin eine gewisse Harmonie. In zarten, pastelligen Rückblenden, im Format von selbstgemachten Videos, erinnert sich Cleo an ihre Schwester, während das Leben der Familie weitergeht.
Die Mädchen im Alter zwischen 6 und 15 Jahren schminken sich, studieren Choreografien zu Radiomusik ein, machen erste Kussversuche mit Tomaten, erzählen sich Gruselgeschichten über verschwundene Mädchen. Als Cleo eines Nachts zum ersten Mal ihre Periode bekommt, wird sie in ihrer Angst von der ältesten Cousine aufgefangen und gemeinsam feiern sie eine Zeremonie zu Ehren der blutigen Unterhose. Es sind Momentaufnahmen wie diese, die den Film so besonders machen. Beim Zuschauen lacht und weint man zusammen mit den Protagonistinnen.
Am Set sei man zu einer richtigen kleinen Familie zusammengewachsen. Die Darstellerinnen hätten wenig Anleitung gebraucht. Alles sei sehr natürlich entstanden, so die Regisseurin Sol Berruezo Pichon-Rivière in Berlin. Diese Natürlichkeit und Harmonie spiegelt sich auch im Film wider: in der Kameraarbeit, im Detail und in der Liebe zu den Figuren. Der Regisseurin ist ihr Experiment geglückt. Und das kann als Vorbild dienen. Der Film lief in der Sektion Generation Kplus und wird ab 11 Jahren empfohlen.
Rieke Bubert
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