Letztens bin ich beim Aufräumen auf ein altes Video von mir gestoßen. Eine Aufnahme aus der 10. Klasse, gemacht von meinem damaligen Klassenlehrer. Seine Intention war schön: den Moment festhalten und in 10 bis 15 Jahren nochmal überprüfen. Spannend zu schauen, was von den naiven Kinderwünschen übrig geblieben ist. ‘Wo siehst du dich in 10 Jahren?’ war 2006 die Frage.
Wo siehst du dich in 10 Jahren?
Meiner Freundin Jessica schoss es direkt heraus. Sie war sich ganz sicher! „Also erstmal bin ich dann verheiratet…“ – ihre Stimme klingt blechernd aus den alten Lautsprechern. Ich weiß noch wie unsicher ich damals war. Ganz sicher war ich nicht in der Lage, darüber nachzudenken, wo ich in 10 Jahren beruflich oder persönlich zu finden sein werde. Da mir einfach keine bessere Antwort einfiel, plapperte ich das Gesagte von Jessica einfach nur nach. „Heiraten muss schließlich, das ist schon mal sicher!“ dachte ich damals. Inzwischen ist Jessica seit 8 jahren verheiratet. Ich bin gerade mit meinem Partner in unsere erste gemeinsame Wohnung gezogen und bekomme Schnappatmung bei dem Gedanken, wie sich das Zusammenleben wohl entwickeln wird. Das große Wort ‚Heiraten‘ siedelt sich irgendwo auf einer weit entfernten Insel an, weit hinten in meinem Kopf. Wieso habe ich am Ende doch nicht geheiratet?
Ich komme aus einem kleinen Ort. Wer hier nicht mit spätestens 30 Jahren verheiratet ist, ist im Leben falsch abgebogen. Hier zeigst du erst mit einem Ehering, dass du wirklich beziehungsfähig bist. Dass ich zusätzlich auch noch Beziehungen zu Frauen hatte, war für viele Menschen aus diesem kleinen Ort kaum zu verkraften. „Der Richtige kommt schon noch!” hieß es nur. Hier ist eine Beziehung heterosexuell, gipfelt in einem Haus, gipfelt in einer Ehe und lässt mindestens zwei Kinder entstehen. Wer die absolute Erfüllung in dieser klassischen Kernfamilie sieht, ist in den provinziellen Gegenden gut aufgehoben. Ich war in meinen Zwanzigern viel unterwegs, konnte meinen Horizont erweitern und so für mich erkennen, dass ich bestimmt nicht heiraten muss, um ein wundervolles Leben zu genießen. Aber vielleicht möchte ich mich doch trauen und JA zu einer Ehe sagen? Wie ihr lesen könnt: ich bin verwirrt. Das Thema Ehe kommt für mich zwar in Betracht, aber ich fühle dabei auch starke Bauchschmerzen.
Das Ende der Ehe?
Emilia Roig skizziert in Ihrem Buch „Das Ende der Ehe“ die Gründe dafür, wieso die klassische Eheschließung zwischen einer Frau und einem Mann abgeschafft werden sollte. Nach einigen gelesenen Seiten wurde mir klar: Das Buch setzt ein gewisses Basiswissen voraus. Ein ‘easy-read’ ist auf jeden Fall etwas anderes. Hier ein Tipp: auf Spotify ist das gesamte Werk als Hörbuch verfügbar. Abak Safaei-Rad hat bereits „Alle_Zeit“ von Teresa Bücker eingelesen und auch bei „Das Ende der Ehe“ lädt ihre Stimme zum konzentrierten Zuhören ein. Und für mich zum besseren Verstehen der Thematik.
Emilia Roig reißt mit Worten Wunden auf, um darin herumzustochern. Sie beleuchtet das Thema auf unterschiedlichen Ebenen und schenkt den Leser*innen diverse Fakten und Denkanstöße, die Ehe neu aufzustellen. Verschiedene Konzepte, wie das Modell der erweiterten Familie und andere alternative Beziehungssysteme beschreibt Emilia Roig eindrücklich. Auch die Kindererziehung und das fatale „Ach – wir bleiben zusammen wegen der Kinder“ werden von der Autorin aufgegriffen und in den sachlichen Kontext eingeordnet.
Besonders die finanzielle Abhängigkeit und die unbezahlte Care-Arbeit gibt vielen Frauen einfach nicht die Möglichkeit, sich zu trennen. Das Buch stimmt mich zwischendurch bitter und ich brauche eine Pause. Mir wird immer wieder bewusst, dass wahre Gleichstellung in unserem System nicht möglich sein wird. Emilia Roig lässt mich mit meiner Wut nicht alleine.
Sie beschreibt auch Lösungsvorschläge, wie zum Beispiel „Die Care-Revolution“. Hierbei werden die Rechte, Pflichten und Privilegien auf mehrere Menschen erweitert und aufgeteilt, um so die fürsorglichen Aspekte der Ehe dem patriarchalen Gerüst zu entziehen. Sie leistet Aufklärungsarbeit.
Der Gender Pay Gap, das binäre Geschlechtssystem und sexuelle Bedürfnisse werden in dem Buch genauer erläutert und immer wieder in den direkten Bezug zur Ehe gesetzt. Manche Textstellen haben mich erröten lassen, bei anderen musste ich zustimmend nicken und wieder andere haben stark zum Nachdenken angeregt. Ist die Liebe wirklich nur eine Erfindung der Gesellschaft, um die Pflichten der Ehe zu romantisieren? Interessanter Gedanke, mit dem ich mich vorher nie beschäftigt habe. Auch das Thema Trauma spielt in dem Buch eine große Rolle. Ihre Offenheit und der starke Bezug zu ihrem eigenen, privaten Lebensraum schenken den Worten gleichermaßen Authentizität und Überzeugungskraft.
Queerness und Freundschaften werden von Emilia Roig als Vorbildrollen für das Miteinander beschrieben. Vertrauen, Respekt und Kommunikation sind nicht nur Bestandteile von Paarbeziehungen, sondern von allen Beziehungskonstrukten, die in unser diversen Welt existieren. In mir lösen diese Worte eine wohlig-warme Welle aus – das gefällt mir. Das Buch „Das Ende der Ehe“ richtet sich für mein Verständnis vor allem an heterosexuelle Paare, die bereits verheiratet sind und darüber nachdenken, neue, offenere Wege zu beschreiten. Emilia Roig kann sicherlich dabei helfen, unentdeckte Themenbereiche in der Paarbeziehung zu öffnen um darüber zu diskutieren. Empowernd ist das Buch in jeden Fall! Aber auch für Menschen wie mich ist „Das Ende der Ehe“ ein Lesetipp. Du bist unsicher, wie du mit dem Thema „Heiraten“ umgehen sollst? Lass dich auf das Buch ein und es bietet dir einige Möglichkeiten, dich schlauer zu lesen. Am Ende habe ich gelernt, dass ich mich nur selbst trauen und JA zu unterschiedlichen Beziehungen sagen muss.
Anneke Wissmann
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