Anna Irmgard Jäger erzählt in ihrem Debut-Werk „Ganz normale Tage – Geschichten von Träumen und Traumata“ von einer von Drogensucht, mentalen Krankheiten und Migration geprägten Familiengeschichte mit einem Schreibstil, der direkt in die Magengrube schlägt.
Die Bremerin Anna Irmgard Jäger hat sich in ihrem Buch der Frage gewidmet, wie es ist, mit verrückten Eltern aufzuwachsen. Die biografisch inspirierte, aber teilweise fiktive Erzählung besteht aus 40 Kurzgeschichten. Sie liefert Einblicke in das Leben der griechisch-deutschen Familie voller toxischer bis hin zu traumatischen Verhaltensweisen.
Die Protagonistin namens Erika erlebt eine Unmenge an traumatischen Ereignissen in ihrer Kindheit, die von ihrer Familie ausgehen. Von markerschütterndem sexuellen Missbrauch, Drogensucht, Schizophrenie bis hin zur Abwesenheit verantwortungsvoller Elternfiguren ist leider alles dabei. Anna Irmgard Jäger redet von diesen Traumata aber selten leidend, sondern eher komisch und keck.
Die Erzählung beleuchtet unterschiedliche Altersstufen der Protagonistin. Mal ist sie ein elfjähriges Mädchen, das von ihren Eltern Bier zum Einschlafen bekommt und Zigaretten raucht, im nächsten Kapitel wird von einer Erika erzählt, die volljährig ist und im Bremer Nachtleben arbeitet. Des Weiteren wechselt nicht nur das Alter relativ sprunghaft, sondern auch der Ort des Erzählten. Genau wie der Ortswechsel zwischen Bremen und Athen, zwischen verrauchten und nach Bier stinkenden Zügen, Psychiatrien und Kindergeburtstagen lässt auch die Erzählung nichts an Überraschungen zu wünschen übrig.
Jeder Satz ist eine Überraschung
Durch den unverblümten, von kindlicher Gutmütigkeit und Naivität geprägten Schreibstil trifft Anna Irmgard Jäger die lesende Person direkt in die Magengrube. Dabei holt die schamlose, direkte und ehrliche Erzählweise die lesende Person aus der Komfortzone. Es wird ein Gefühl von Empathie, Mitleid und Schmerz für die junge Erika vermittelt, die von der schizophrenen Mutter und dem alkoholkranken Vater, wie von deren ambivalenter Zuneigung betroffen, traumatisiert ist. Gerade dieses Ohnmachtsgefühl, welches aus dem Ausgeliefertsein in schreckliche Familienverhältnisse resultiert, wird durch die anfangs kindliche Neugierde, den Erfindungsdrang und ihre Fantasie im Alleinsein und später durch Tablettenabhängigkeit kompensiert.
Verteilung der Eltern-Kind-Rollen
Das Gefühl von Erikas Einsamkeit wird begründet durch die Alkoholsucht der Eltern, die sich anfangs jeden Abend in Bremer Kneipen rumtreiben und die junge Erika mit ihrem Bruder zuhause allein lassen. Später nimmt Erika eine Position des Gefühls von Verantwortung für die Eltern, besonders für den Vater, ein, die auf jeden Fall ungesund ist und zu den ambivalenten Verhältnissen in zwischenmenschlichen Beziehungen beiträgt.
Die Unzuverlässigkeit der Eltern, besonders die des Vaters, kompensiert Erika später durch fragile Liebesbeziehungen, ein Idealisieren des männlichen Partners auf einer emotionalen und spirituellen Ebene. Dabei hat sie selber aber auch ein Gespür für das, was gut und was schlecht für sie ist, was mich hat staunen lassen. Erika weiß um ihre Traumata, ihre Realität ist so gebrandmarkt durch die Missstände in ihrer Familie, dass sie ein ganz anderes Weltbild hat. Sie nimmt die lesende Person an die Hand, um ihr die knallharte Realität ihres Lebens, aber auch ihre verletzte Seele und Herz zu zeigen. Zerbrechlich, aber nicht weinerlich. Zart, aber nicht schwach.
Komik in Erlebtem
Die später bei Erika diagnostizierte Posttraumatische Belastungsstörung und die daraus resultierenden Panikattacken und Angststörungen schränken Erika in ihrem Künstlerinnenberuf ein. Der Umgang mit dem versuchten Heilen der Krankheit lässt an Komik nichts zu wünschen übrig. Ein kettenrauchender alter Mann nimmt sich ihrer an und verlangt 2000 Euro für zehn Stunden sogenannter Therapie. Die Kompensation solcher absurder Momente erfolgt durch urkomische Dialoge und Beobachtungen. Anna Irmgard Jäger schafft es, die Absurdität von Momenten in Ehrlichkeit oder dem detaillierten Schildern dieser zu verarbeiten.
Migration und Rassismus
Außerdem wird das Gefühl des Außenseiterdaseins und das des Fremdseins in dem Buch in Zusammenspiel mit rassistischer Ausgrenzung und dem Akt der Migration in ein fremdes Land deutlich. Diese Mischung an Mikroaggressionen wird so unverblümt und ehrlich an den Lesenden kommuniziert, dass man nur staunen und wütend sein kann.
Fazit
Alles in allem ist das Buch ein Exkurs in eine kaputte Welt im Kopf eines unschuldigen Mädchens, welches die durch eine toxische Familie verursachten Traumata in sich trägt, durch die Welt läuft und versucht, irgendwie ihren Platz zu finden. Man wird wie auf einer Welle mitgenommen in Erikas Gefühle, ihren Schmerz, ihre Wut, aber auch ihr Glück und ihre Erfüllung. Es ist eins dieser Bücher, die man nicht weglegen kann, obwohl man will, um sich den Genuss sparsam einzuverleiben.
Jule
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