Inwiefern gehören Kunst und politischer Aktivismus zusammen? Welchen Beitrag kann Kunst in der politischen Sphäre leisten? Wo kann sie Brücken bauen, Ungerechtigkeiten bekämpfen und Unterdrückten eine Stimme geben? Nadine Labaki ist eine libanesische Schauspielerin, Regisseurin und Aktivistin. Sie sieht Kunst als die einzige Möglichkeit, politische Perspektiven zu verändern. Das verriet sie in einem Gespräch mit Eleanor Wachtel 2018.
Eine Kindheit im libanesischen Bürgerkrieg
Sicher liegt diese Sichtweise auch in ihrer Vergangenheit begründet. Aufgewachsen im kriegszerrütteten Libanon der 70er und 80er-Jahre waren es Filme und Serien aus dem Videoverleih unter der familiären Wohnung, die der Regisseurin Abwechslung boten. Filmische Kunst und das Aufwachsen im Krieg beeinflussten ihren Lebensweg. Im Interview mit teleschau reflektiert sie:
„Ich habe schon früh beschlossen, dass ich Filmemacherin werden will. Ich wollte Geschichten erzählen. Filme haben mich auftanken lassen in einem Land, in dem eigentlich alles schiefging. Wir sind ein winziger Punkt auf der Landkarte und wenn du dort lebst, ist dir ziemlich schnell klar, dass du unsichtbar bist. Dann rebellierst du, ballst die Faust und willst etwas ändern an deiner Realität.“
Studium im Libanon, große Anerkennung weltweit
Rebelliert, das hat sie tatsächlich. Und sie tut es bis heute – erfolgreich. Als sie ihrem Vater eröffnete, sie wolle Regisseurin werden, machte er sie noch darauf aufmerksam, dass es im Libanon ja gar keine Filmindustrie gäbe. Heute ist Labaki die erste weibliche, arabische Filmemacherin, deren Film für einen Oscar nominiert wurde. Und das, obwohl – oder vielleicht gerade weil – sie anders als die meisten ihrer arabischen Kolleg*innen ein Studium der audiovisuellen Studien an der libanesischen Saint Joseph Universität absolvierte, anstatt zum Studieren ins Ausland zu ziehen.
Die Rede ist von dem aufrüttelnden Sozialdrama Capernaum. Der Film wurde mit Laien gedreht und behandelt die Realität in Armut lebender Menschen in der libanesischen Hauptstadt Beirut. Im Fokus steht Zain, ein zwölfjähriger Junge. Ihm wird der Schulbesuch von seinen Eltern verwehrt. Wie seine zahlreichen Geschwister soll er Geld für die Familie verdienen. Als seine elfjährige Schwester im Tausch gegen zwei Hühner verheiratet wird, reißt er von Zuhause aus. Zain kommt bei Rahil, einer Arbeitsmigrantin aus Äthiopien, unter. In Gegenleistung für ein dürftiges Dach über dem Kopf babysittet der Junge ihren Sohn Yonas. Dieser ist im Libanon nicht dokumentiert und muss versteckt werden. Das Drama nimmt seinen Lauf, als Rahil eines Tages nicht von der Arbeit zurückkehrt, und Zain die Gelegenheit erhält, mithilfe eines Schmugglers nach Schweden zu fliehen.
Ungerechtigkeiten sichtbar machen, ungewöhnliche Geschichten auf die Leinwand bringen
Labaki, das wird in Capernaum deutlich, hat ein Talent dafür, die Unsichtbaren sichtbar zu machen. Sie erzählt eine inklusive Geschichte. Diese macht nicht nur auf Armutsproblematiken aufmerksam, sondern auch auf die erbarmungslosen Systeme, denen etwa Arbeitsmigrant*innen und Geflüchtete ausgesetzt sind.
Ihre anderen Filme teilen die Qualität, die Zuschauer*innen durch unbekanntes Terrain zu navigieren und ihnen immer neue Seiten der libanesischen Lebensrealität zu präsentieren. Labakis Debütfilm Caramel, der 2007 seine Prämiere feierte, mischt Dramatik mit Komödie, wenn er die Lebensumstände und Konflikte von sechs Beiruti Frauen auf die Leinwand bringt. Ihr zweiter Film, Wer weiß, wohin?, erzählt die Geschichte konfessioneller Spannungen in einem libanesischen Dorf. Frauen spielen hierbei eine zentrale Rolle in der Konfliktregulierung. In den drei Filmen ist Labaki auch als Schauspielerin zu sehen.
Kunst als Form von politischem Aktivismus
Immer wieder wird in Labakis Interviews der Einfluss deutlich, den eigens erfahrene politische Konflikte auf ihre Arbeit als Regisseurin und Aktivistin haben. So erleben die Kinder in Capernaum ähnliche Erschwernisse wie sie selbst im libanesischen Bürgerkrieg. Wer weiß, wohin? war inspiriert von der Frage, was sie als Mutter tun könnte, wenn ihr Sohn einmal an gewalttätigen Straßenkämpfen teilnehmen wollen würde.
Obwohl ihre Filme einen starken Bezug zu ihrer Heimat haben, macht Labaki die Universalität ihrer Themen deutlich. Gegenüber der Süddeutschen Zeitung merkt sie an, dass die in Capernaum gezeigten Armutsprobleme in unterschiedlichem Ausmaß überall zu finden seien, „ob in Los Angeles oder in München.“ Vielleicht ist auch diese Universalität ein Erfolgsgeheimnis ihrer Filme. Sie findet sich in Labakis eigenen Wertvorstellungen wieder. Gegenüber Harper’s Bazaar Arabia sagt sie:
„Ich bin mir meiner Verantwortung als Mensch in dieser Welt so klar. Ich weiß, dass ich Veränderung erzielen kann. Ich wandele meine Wut lieber in Positives um. Der erste Schritt ist, eine Revolution in deinem Inneren zu kreieren; eine Rebellion gegen das, was wir leben. Ich glaube nicht, dass wir uns weiterhin anpassen sollten.“ (eigene Übersetzung)
Die Regisseurin verbindet Kunst und Aktivismus, übernimmt Verantwortung in einer Welt, in der zu oft Ungerechtigkeit triumphiert – und beweist, dass Kunst einen wichtigen Beitrag zu schweren politischen Debatten leisten kann. Seit dem 22.01.22 ist Labaki als Schauspielerin in der Netflix Produktion Fremde Freunde zu sehen, einer arabischen Adaption des italienischen Filmhits Perfetti Sconosciuti von Paolo Genovese.
Rasha Quwa
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