Was umfasst Körperlichkeit? Wenn wir uns diese Frage stellen, werden wir viele verschiedene Antworten erhalten. Für manche ist der Körper vielleicht nur die Hülle des Seins, ein Mittel zum Zweck. Für andere mag er alles in sich tragen, was uns ausmacht. So empfindet auch Laura Moreno. Sie ist Person of Indigenous Descent und Körpertherapeutin. In ihrer Arbeit beschäftigt sie sich mit einem dekolonialen Ansatz der Körperarbeit. Wir leben in einem System, das auf koloniale Strukturen aufgebaut und noch immer eng mit diesen verwoben ist. Das ist kein Geheimnis. Menschen wie Laura Moreno setzen sich mit ihrer Arbeit dafür ein, diese Strukturen zu dekonstruieren.
Letztes Jahr haben wir bereits im Rahmen eines Artikels über die Aufführung von „Wiramiri“ mit ihr gesprochen. Heute wollen wir anlässlich des Tages der Frauengesundheit einen Blick auf ihre Arbeit in Bezug auf Wellness und Gesundheit legen. Hierfür habe ich ein Interview mit ihr geführt und sehr spannende Antworten erhalten.
Möchtest du dich zunächst einmal vorstellen? Wer bist du und was machst du?
„Mein Name ist Laura Moreno, ich positioniere mich als Person of Indigenous Descent mit Wurzeln in Wallmapu und Cymru und arbeite als Körpertherapeutin und Lawenche (Medizin-Mensch) in eigener Praxis. Ich erforsche die traditionelle Medizin meiner ancestors und nutze die Heilkraft der Pflanzen. Außerdem bin ich Pädagogin und Künstlerin und gebe Workshops und Talks.
Besonders interessiert mich die Dekolonisierung von Wellness und Gesundheit. Dabei interessiert mich vor allem wie es gelingen kann, dass Angehörige der Globalen Mehrheit sich mit traditionellen Praktiken, die ihnen gewaltsam fortgenommen wurden und werden – unter anderem durch kulturellen und spirituellen Extraktivismus -, wieder verbinden und diese für ihr Wohlbefinden nutzen können.“
Was verstehst du unter Körperarbeit?
„Körperarbeit bewegt. All unsere Erfahrungen zeigen sich in und durch den Körper. Sinneserfahrungen, Gefühle, Gedanken, Potenziale, Träume und Bedürfnisse ebenso wie Trauma und Leid. Unser Wesen spiegelt sich in unserem Körper wider und ebenso beeinflusst unser körperlicher Zustand unser Wesen. Körperarbeit kann uns dabei unterstützen gesund zu bleiben, zu heilen, unser Potenzial zu entfalten und Transformation herbeizuführen. Und das auf individueller, aus einem dekolonialen Ansatz aber vor allem auf kollektiver Ebene.
Ich verstehe darunter auch, Räume für den Austausch von Stimmen und verkörperter Narrative zu halten, für Essen, für Gerüche, für Rituale, für die Erinnerungen und das Erbe unserer ancestors, von denen wir zum Teil nicht einmal wussten, dass wir sie haben, weil das koloniale Projekt immer noch die Auslöschung unserer Narrativen verfolgt.
Meine Body Mapping Workshops sind so ein Raum.
Bei dieser von mir entwickelten Körperarbeit kombinieren die Teilnehmenden Body Scan Meditation, Holistic Bodywork und künstlerische Techniken wie Zeichnen, Collage oder Tanz, um Aspekte unseres Lebens, unseres Körpers und der Welt, in der wir leben visuell darzustellen. Körperhaltung, Anatomiestudien, Farben, Gefühle, persönliche Symbole, mentale Überzeugungen, Slogans, Botschaften an andere, unsere Identitäten, Migrationsreise und unterstützende Strukturen können Teil dieser Darstellung sein. Der kollektive Austausch, das Teilen von Mahlzeiten, Anfangs- und Abschlussrituale spielen eine wesentliche Rolle.
Das alles verstehe ich unter Körperarbeit.“
Wie siehst du den Bezug von Körper und Kolonialismus bzw. mit deiner Arbeit auch Dekolonialismus?
„Ich beziehe mich in meiner Arbeit überwiegend auf Dekoloniale Theorien aus Lateinamerika. Es gibt Gemeinsamkeiten aber auch Unterschiede zu Antikolonialismus, Postkolonialismus oder Dekolonialen Ansätzen aus anderen Regionen. Sie alle widersetzen sich kolonialen Strukturen, streben aber nicht unbedingt danach, neue Strukturen zu schaffen. Es geht nicht um die Wiederherstellung einer imaginäre Vergangenheit, die konstruierte Klischees und rassistische Stereotypen reproduziert, sondern um einen Paradigmenwechsel. Indigene Menschen und ihre Nachkommen, Kultur, Spiritualität und Kosmovision sind nicht etwas aus der Vergangenheit. Wir sind hier. Unsere Körper sind hier.
Dekolonialität aus lateinamerikanischer Perspektive versucht, sich von unseren derzeitigen dominanten, weißen Wissens- und Machtstrukturen zu lösen, um neue, gerechtere und liebevollere Strukturen zu schaffen, die auf Gegenseitigkeit beruhen, die Gemeinschaft und das Ökosystem nicht als getrennt von dem Einzelnen sehen und umgekehrt. Es ist ein laufender Prozess und hat viel mit Bewegung und Emotionen zu tun und deshalb ist es meiner Meinung nach so wichtig, Körperlichkeit mit einzubeziehen. Denn Unterdrückung findet auf unseren Körper-Territorien statt.
Viele angemessene Reaktionen unserer Körper auf jahrundertelang währende Unterdrückung, Abtrennung und Vereinzelung, werden pathologisiert.
Es gibt aber eine koloniale Wunde, die anerkannt werden muss. Es geht um kollektive Heilung, um ein wieder ganz werden. Danach sehnen wir uns alle. Es gibt auch einen spirituellen Aspekt, mit dem viele Menschen in Resonanz gehen.“
Welche Rolle spielt Intersektionalität dabei für dich?
„Mir ist sowohl auf meinem persönlichen als auch beruflichen Weg aufgefallen, dass der Fokus sehr stark auf eine individualisierte Verantwortung für das eigene Wohlbefinden gelenkt wird. Es ist wichtig, darauf aufmerksam zu machen, dass Wohlbefinden gekoppelt ist an strukturelle Bedingungen. Das bedeutet, dass Gesundheit und Wohlbefinden auch immer mit Privilegien zusammenhängen und der Mangel daran damit, ob man marginalisierten Gruppen angehört.
Der angesetzte Maßstab für das Recht auf Gesundheit und Wohlbefinden basiert auf White Supremacy, cis Heteronormativität, Ableismus und finanziellem Wohlstand. Ich wollte wissen, wie wir das überwinden können. Ich habe angefangen zu lernen und zuzuhören, was im Bereich Dekolonialer Körpertherapie tätige Schwarze und Indigene Menschen praktizieren, mit welchen Ansätzen und Traditionen unserer ancestors wir uns wieder verbinden können. Und wie sich das auf unsere Realität, hier in Deutschland, übertragen lässt.“
Du hast ja als Tänzerin begonnen. Inwieweit hat dort bereits der Aspekt der Dekolonialisierung eine Rolle gespielt?
„Das Bedürfnis mich zu bewegen und mich über Bewegung auszudrücken war immer da. Ich habe als Kind, wie die meisten Kinder, eine Form von Freiheit gefühlt, von Selbstbestimmung, wenn ich mich bewegt und getanzt habe. Aber Kolonialität und Patriarchat, best friends, haben sehr schnell versucht, mich in die Schranken zu weisen. Ich habe Widerstand geleistet, das liegt mir zum Glück im Blut. Das war ein langer Prozess. Nach und nach fand eine Wiederaneignung meiner Körperlichkeit statt, eine Zusammenführung verschiedener Seins-Ebenen, eine Ganzwerdung, Heilung. Ich habe ein Bewusstsein für meinen Körper entwickelt und dadurch für die Tatsache, dass dieser rassifziert und feminisiert wird und auch was von mir erwartet wird, nämlich Unterwerfung und stillschweigende Zustimmung. Ich habe den Zusammenhang von Körper, Geist, Emotionen und struktureller Unterdrückung als kollektive Erfahrung be-griffen, von „greifen“, ein körperlicher Akt. Und dadurch das Potenzial zur Transformation durch unsere Körper.“
Wann hast du aktiv angefangen, dich und deinen Körper gegen den kolonialisierten Blick und Haltung einzusetzen?
„Ich bin Teil der Global Majority, das heißt dem Teil der Menschheit der Schwarz, Indigen, Asiatisch oder Braun ist, sei es mit diversen Wurzeln, im globalen Süden beheimatet oder als „ethnische Minderheiten“ rassifiziert im globalen Norden lebt. Manchmal entscheiden wir, in die Offensive zu gehen, manchmal ist es sicherer für uns, uns unsichtbar zu machen. Aktiv sind wir immer, wie die Ngen, die Geister der Vulkane. Wenn die Frage ist, wann ich angefangen habe, Widerstand zu leisten, dann ist die Antwort „von Tag 1“, das körperpolitische Bewusstsein kam später, wie in der Frage zuvor erwähnt.
Ich würde sagen, dass der individuelle Teil meiner Befreiung, der Tag für Tag verteidigt werden muss, ein großes Stück weit bereits gelungen ist. Aber ich setze mich, meinen Körper, gemeinsam mit vielen anderen People of Global Majority, weiterhin für eine kollektive Befreiung und Selbstbestimmung ein. Denn bekanntermaßen sind wir erst dann frei, wenn alle frei sind. Ich gehe stark mit der Forderung „Black Liberation, Indigenous Sovereignty“ in Resonanz und fühle mich Teil einer globalen und diversen Bewegung. Das ist sehr schön.“
Wie sieht deine persönliche dekolonialisierende Körperarbeit aus?
„Körperarbeit zu üben, die die Ganzheitlichkeit unseres Seins und die koloniale Wunde mit einbezieht, ist meine Praxis. Ich übe eine spirituelle Praxis, die angebunden ist an die Traditionen meiner ancestors. Ich ernähre mich überwiegend von traditionellen Speisen, die ich selber zubereite. Ich mache mehrmals in der Woche eine Körperreise, um in mich hineinzuhören und mich über meinen Körper mit dem großen Ganzen und meinen ancestors zu verbinden. Ich bewege mich, ich tanze, ich singe. Ich mache schöne Sachen und freue mich. Ich bemühe mich, den Auftrag als Lawenche zu erfüllen und meine ancestors nicht zu blamieren. Und ich pflege die Verbindung zu unseren Communities. Das erfordert Einsatz und Commitment. In diesem Sinne ist Regeneration sehr wichtig. Rest is resistance.
Dekolonialität ist eine Haltung und keine Methode.
Es geht um Bewusstwerdung und um ein Commitment, täglich aus dieser Haltung heraus in die Praxis zu gehen. Kollektive Reflexion sehe ich als eine Voraussetzung um die ständige Reproduktion von Kolonialität zu beenden. Es gibt noch viel Unwissenheit, es wird viel mit Begriffen um sich geworfen. Mir ist wichtig, mich zu bilden, zu lesen, kollektive Räume zu schaffen, in denen Austausch stattfinden kann – gerne außerhalb der akademischen Bubble. Akademische Institutionen nähren sich von dem Wissen kolonisierter Gemeinschaften und deren Territorien. Letztere sind aber die Expert*innen und sollten das Wort haben, unabhängig davon, ob sie akademisch sind oder nicht.“
Was für eine Wirkung siehts du bei deinen Klient*innen in Bezug auf die Körperarbeit?
„Die Frage finde ich schwierig. Ich würde nicht von Klient*innen und Wirkung sprechen. Ich sehe mich als Begleitperson in Heilungsprozessen. Ich spreche gerne von einer Zusammenarbeit. Man müsste die Menschen, die zu mir kommen fragen, was für eine Wirkung sie spüren. Ich stelle die Fähigkeiten, die ich bekommen habe, der Gemeinschaft zur Verfügung. Natürlich muss ich davon leben können, ich zahle auch Miete.
Ich bin ausgebildete, Trauma-informierte Bewegungstherapeutin, Körperarbeiterin, Pädagogin, Tänzerin, Choreografin und Künstlerin. Ich habe im Laufe der Jahre aus einer Selbstbetroffenheit heraus Konzepte entwickelt, um die Tools, die ich in meinen Ausbildungen erlernt habe, auf unsere Communities zu übertragen. Um sie weg von der weiß-europäischen Realität hin zu unseren Realitäten zu bewegen. Um Gesundheit und Wohlbefinden zu dekolonisieren. Ich lerne weiterhin, ich beobachte, ich reflektiere, ich tausche mich aus. Ich mache das aus Überzeugung, aus Liebe, aus Commitment. Wenn das eine Inspiration ist und einen nährenden Effekt auf Menschen hat, die die Begegnung mit mir suchen, freue ich mich und bin dankbar.“
Wie kann man den dekolonialen Blickwinkel in die breite Öffentlichkeit tragen?
„Dekoloniale Überlegungen wurden bereits zu Beginn der Moderne-Kolonialität im 16. Jahrhundert in Abya Yala formuliert. Dies ist kein neues Phänomen. Sie stellen ein pädagogisches und kritisches Instrument dar, das uns helfen kann, die Ideologien, die uns im Laufe der Geschichte als universell gültig aufgezwungen wurden, zu hinterfragen und uns gerechtere, liebevollere, auf Gegenseitigkeit basierende Formen des Zusammenleben vorzustellen.
Meines Erachtens sollten die Stimmen zu Wort kommen, die seit über 530 Jahren Widerstand leisten. Dass diese Stimmen nicht oder selten Teil des öffentlichen Diskurses sind, ist gewollt. People of Global Majority sind diejenigen, die ihre Perspektiven und Kosmovisionen Tag für Tag als Gegenentwurf zur Kolonialität trotz allem leben. Weltweit stellen diese Gruppen derzeit ca. 80 % der Weltbevölkerung. Ist das nicht die breite Öffentlichkeit?
Vielleicht geht es nicht so sehr darum, dass wir Perspektiven irgendwo hin tragen, am besten noch in ein konstruiertes Zentrum der Welt, sondern dass die Nutznießenden des vorherrschenden Systems Accountability praktizieren und aufhören, sich selbst zu zentrieren.“
Welche Themen oder Projekte beschäftigen dich im Moment?
„Ich bin dabei, die Schwerpunkte meiner breit gefächerten Tätigkeiten neu zu setzen. Ich möchte mehr mit Schwangeren arbeiten und gerne ein illustriertes Buch herausgegeben über Körperarbeit für Kinder, die von kolonialrassistischen Kontinuitäten betroffen sind. Holistic Treatments, bestehend aus einer Kombination traditioneller indigener Medizin und klassischer Massage, sollen mehr Raum bekommen. Body Mapping Workshops werde ich weiterhin geben, als nächstes im Juni in der Schwarzen Kinderbibliothek, mit der ich mich sehr verbunden fühle. Insgesamt möchte ich mich mehr fokussieren und insgesamt weniger machen.
Schauen wir mal, ob das gelingt.“
Und zu guter Letzt: Was würdest du dir in Bezug auf das Thema noch wünschen?
„Ich habe mich lange bemüht darum, dass sich langfristig ein Bremer Netzwerk von rassifizierten Menschen bildet, die im Gesundheits- und Wellness Bereich arbeiten und die Interesse haben, gemeinsam Wege zu finden, selbstverwaltete Räume zu schaffen in denen Community-Care und Collective Wellness stattfinden kann. Das ist nur halbwegs geglückt. Vielleicht tut sich da noch was.
Ich arbeite sehr gerne als Choreografin, aber es ist sehr mühsam. Letztes Jahr habe ich mit Ach und Krach und Dank dem persönlichen Einsatz von vielen solidarischen Unterstützenden, eine selbstfinanzierte, dekolonial-feministische Tanzproduktion, die den Zusammenhang von Kolonialität und Feminiziden thematisiert, in den Schlachthof Bremen gebracht. Leider gab es nur eine Aufführung. Das Bremer Fernsehen hat es zwei Mal abgelehnt, über uns zu berichten, mit der Begründung, das sei aktuell nicht Thema im Programm. Das ist sehr aussagekräftig, natürlich.
Es ist unglaublich schwierig Zugang zu öffentlichen Geldern, Plattformen und so weiter zu bekommen, wenn man sich aus einer radikalen, peripheren Position artikuliert und nicht in die vorherrschende Agenda passt. Allyship ist nach wie vor zu häufig selbstzentriert und selektiv, ohne Frage.
Ich würde mich freuen, wenn nicht immer die gleichen Gesichter überall auftauchen. Und damit meine ich nicht, dass ich persönlich auftauchen möchte. Ich will damit sagen, ich wünsche mir, dass von Black and Indigenous People erarbeitete Inhalte und Konzepte Credit bekommen, dass ihre Namen genannt werden und keine dreiste Aneignung stattfindet. Ich wünsche mir, dass sie den Raum und das Geld bekommen, das ihnen zusteht. Ich wünsche mir ein radikales Power Sharing von Menschen, die Nutznießende des vorherrschenden Systems sind. Das wäre mal eine dekoloniale Praxis!“
Falls Lauras Worte euch inspiriert haben und ihr euch mehr mit eurer Körperlichkeit und dem dekolonialen Ansatz dazu beschäftigen möchtet, schaut doch mal auf Lauras Instagram Account vorbei.
Mala
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