Als Gegenveranstaltung zu den Feierlichkeiten der sogenannten Entdeckung Amerikas am 12. Oktober, performt die Gruppe Periferia Decolonial Performance Art am 8. Oktober das Tanzstück „Wiramiri“ im Kulturzentrum Schlachthof. Die Performance soll dekolonial-feministische Perspektiven in und aus Abya Yala/Lateinamerika und die Karibik als wichtigen Beitrag zu emanzipatorischen Prozessen hervorheben. Auf der After-Show-Party wird Los Ambrosios de la Sarita Beats aus Abya Yala auflegen.
Wann: Sonntag, 8. Oktober 2023 von 18:00 bis 22:30 Uhr
Information und Karten im Vorverkauf erhältlich unter: periferia-tickets@gmx.de
Weitere Hintergründe zum Stück und zum Projekt und das Crowdfunding, falls ihr nicht kommen, aber die Aufführung unterstützen wollt: Hier Klicken
Im Vorfeld hat frauenseiten ein Interview mit Laura Moreno geführt, die das Projekt geleitet hat:
Welche Botschaften möchtet Ihr durch euer Tanzprojekt vermitteln?
“Zum einen möchten wir auf dekoloniale Kämpfe und Perspektiven aus und in Abya Yala- also Südamerika und die Karibik- aufmerksam machen. Insbesondere FLINTA-Personen kämpfen seit Jahrhunderten gegen Extraktivismus, Zerstörung der Lebensräume und für indigenen Kosmovisionen. Und werden deswegen verfolgt und ermordet. Zum anderen möchten wir eine kollektive Transformation von der Unterdrückung und Vereinzelung durch Patriarchat und Kolonialismus hin zu Gemeinschaftlichkeit und Unterstützung sichtbar machen und damit den von Rita Segato beschriebenen Weg der Beziehungen als Möglichkeit aufzeigen.”
Was ist der kulturelle und historische Hintergrund von „Wiramiri“ und wie wird dieser in eurer Performance reflektiert?
“Wir beziehen uns in unserem Stück auf Texte aus Rita Segatos Buch „Wider die Grausamkeit“ (Contrapedagogías de la crueldad), das 2022 auf Deutsch erschienen ist. Es geht darin um Geschlechterfragen in den indigenen Völkern und Gemeinschaften von Abya Yala, um geschlechtsspezifische Gewalt und um die Beziehungen zwischen Geschlecht, Rassismus und Kolonialismus.
Wir leben in einem Weltsystem, dass von Kolonialität durchzogen ist. Die Auswirkungen der Kolonisierung, Beginn 1492 bis jetzt, sind immer noch spürbare Kontinuitäten in Form von Extraktivismus und patriarchaler, kolonial-rassistischer Gewalt. Das wollten wir thematisieren und gleichzeitig einen Ausweg aufzeigen.
Für die Musik haben wir mehrheitlich zeitgenössische indigene und Afro-Indigene Interpret*innen oder solche mit Descent ausgewählt.”
Wie hat die intersektionale Gruppenzusammensetzung eure Herangehensweise an die Arbeit an „Wiramiri“ beeinflusst und wie spiegelt sich diese Vielfalt in der Performance und den Botschaften des Projekts wider?
“Intersektionalität beschreibt ja, so verstehe ich es zumindest, die Überschneidung von mindestens zwei Unterdrückungskategorien, die eine besonders vulnerable Situation für uns und in Folge einen spezifischen emanzipatorischen Anspruch schafft. Uns war von Anfang an bewusst, dass wir in einem Projekt mit unterschiedlichen Machtdynamiken alle auf verschiedenen, teils auch mehreren Ebenen von Diskriminierung betroffen sein und wir alle diskriminierend, verletzend oder grenzüberschreitend handeln können. Das war und ist nicht immer einfach. Ich war ja beispielsweise in einer Doppelrolle, nämlich als Leitung und gleichzeitig als mehrfach marginalisierte Person. Gleichzeitig haben wir das Potential von so einem gemeinsamen, gemischten Raum gesehen. Wir haben extra ein Awareness-Konzept erarbeitet, weil wir unreflektierte Äußerungen oder Handlungen nicht auflösen, aber alle auf unterschiedliche Art bewusst damit umgehen können. Als Choreografin war es mir wichtig, prozessorientiert zu arbeiten und viel Raum für die unterschiedlichen Themen der Teilnehmenden zu schaffen. Das ist uns sehr gut gelungen und spiegelt sich in der Performance wider, denke ich.”
Welche Herausforderungen habt Ihr während der Vorbereitung und Umsetzung des Projekts erlebt?
“In Bezug auf die Resonanz der Öffentlichkeit- Stiftungen, Spielorte, Medien und einige Gruppen, die sich selbst im feministischen Spektrum verorten- mussten wir eine große Unwissenheit über genderspezifische Gewalt gegen Schwarze, Indigene und Afro-Indigene FLINTA Personen in und aus Abya Yala und leider auch zum Teil großes Desinteresse feststellen. Ein Teil der Proben wurde finanziert, die Produktion und die Aufführung ist selbstverwaltet. Wir haben bei Anfragen nach Finanzierung und Support entweder keine oder ignorante, intersektional diskriminierende, herablassende Reaktionen erhalten.
Die Beziehungen zwischen Geschlecht, Rassismus und Kolonialismus- Kolonialität aus unserer Perspektive- wird im öffentlichen Diskurs nicht ausreichend thematisiert. Es scheint als ob patriarchale, extraktivistische Gewalt gegen Schwarze, Afroindigene und Indigene FLINTA* Personen, die zumeist in prekären Verhältnissen leben, nicht wichtig genug ist, um darüber zu berichten oder die eigene Reichweite zu teilen. Daher freut uns die Möglichkeit, hier sprechen zu dürfen.”
Inwiefern glaubt Ihr, dass künstlerische Ausdrucksformen wie Tanz eine wirksame Methode sein können, um auf komplexe soziale Probleme aufmerksam zu machen und Veränderungen in der Gesellschaft anzustoßen?
“Der Körper ist für mich ein wesentlicher Schlüssel zur Veränderung, denn Unterdrückung findet mehrheitlich auf unseren Körpern statt und somit auch Befreiung. Tanz und Körperarbeit sollten viel mehr eine kollektive Selbsterfahrung, als eine individuelle Selbsterfahrung sein. Denn der Mensch ist aus indigener Perspektive ein Teil des Ökosystems, welches Gegenseitigkeit, und nachhaltige, sorgende Beziehungen braucht. Das ist auch der Grund, warum das Konzept für Wiramiri eine interaktive Installation für sensorische Erfahrungen und eine After-Show-Party mit gemeinsamen Tanz beinhaltet. Es möchte die künstlichen Grenzen zwischen Publikum und Akteur*innen aufheben und Gemeinschaft schaffen.”
Könntest du uns mehr über die Arbeit und Ambitionen von FLINTA of Indigenous Descent in Bremen erzählen? Welche Ziele und Wünsche verfolgt Ihr in Bezug auf eure künstlerische Arbeit und eure Präsenz in der Kunstszene?
“Die Perspektiven von Periferia Decolonial Performance Art und das neustrukturierte Colectivo Abya Yala decken sich diesbezüglich zum Teil. Sowohl in „Lateinamerika“ als auch in den Vereinigten Staaten und Europa hat das Konzept Dekolonisierung, ähnlich wie das der Intersektionalität, bedauerlicherweise einen Prozess der Entpolitisierung und Dekontextualisierung durchlaufen. Es ist nicht mehr an die Praxis einer konkreten Transformation einer historischen Realität gebunden und viel zu häufig eine leere Worthülse. Wie kann eine dekoloniale Praxis in der künstlerischen oder jedem anderen Kontext aussehen? Es existiert eine Tendenz, die Teilnahme an Prozessen der Emanzipation denen, die am stärksten von Marginalisierung und Unterdrückung betroffen sind, zu verwehren und sie auf diese Weise unsichtbar zu machen und zu entmündigen.
Wir möchten Repräsentation! Wir möchten nicht in der Vergangenheit verortet werden, sondern in all unseren vielfältigen und sehr aktuellen Ausdrücken- künstlerisch, kulturell, spirituell- in der Kunstszene, aber auch in der politischen Bildungsarbeit miteinbezogen werden. Die Beiträge des Schwarzen, Afro-Indigenen und Indigenen Abya Yalas zu neuen, dekolonialen Narrativen, sind in jeder Hinsicht wegweisend.
Auch wenn wir nicht in den Territorien leben, so ist unser Körper doch Abya Yala.”
.Wir freuen uns schon auf den Auftritt! Bis dahin.
Martha R.
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