Definitiv nicht alle. Sport ist ein Privileg. Denn bei der Frage nach Sport und Zeit muss der Blick auf etwas ganz Wesentliches gerichtet werden: Unsere Grundbedürfnisse. Alle haben sie. Und alle müssen sie, auf kurz oder lang, befriedigen, um einigermaßen gesund zu leben. Sind sie nicht befriedigt, kommt Mensch nicht auf den Gedanken, auf dem Laufband zu schwitzen. Sie lassen sich als Motoren menschlichen Handelns begreifen und alle streben, ob bewusst oder unbewusst, nach ihrer Erfüllung.
Grundbedürfnisse
Zu den Grundbedürfnissen des Menschen zählen Nahrung, Schlaf, körperliche Gesundheit, Beziehung, Sicherheit, Kontakt, Zugehörigkeit, Anerkennung und einiges mehr.
Nun hat der Tag 24 Stunden und Menschen eine Menge Bedürfnisse. In der Schnelllebigkeit der heutigen Zeit wird ihre Erfüllung unweigerlich zum Drahtseilakt. Es wird von Termin zu Termin gehastet. Tag für Tag wird damit jongliert, sprichwörtlich alles unter einen Hut zu kriegen. Slogans über Work-Life-Balance und optimiertes Zeitmanagement laden dabei vehement dazu ein, den Fehler bei sich zu suchen, wenn die Zeit zum Sporteln dünn gesät ist und nicht alle Bedürfnisse befriedigt werden.
Hinderungsgründe
Meiner Meinung nach ist das zu kurz gedacht. Sicherlich könnte ich weniger Zeit auf Social Media und auf dem Klo verbringen. Sicherlich könnte ich mich nach der Einschlafbegleitung meines Kindes um 20.30 Uhr noch auf die Yogamatte quälen oder morgens um 05.00 Uhr vor der Arbeit das Bauch-Beine-Po-Programm für den Bikini-Sommer machen. Oder ich schlafe einfach.
Ich möchte hier kein Plädoyer für den inneren Schweinehund schreiben und auch nicht dafür sorgen, dass Menschen körperliche Fitness nicht mehr ernst nehmen. Aber ich möchte, dass Sport als das betrachtet wird, was es ist: als Konkurrenz zu der Gemengelage von Bedürfnissen, die ebenfalls im Rahmen dieses hastigen Alltages befriedigt werden wollen.
Gesundheit und soziale Zugehörigkeit
Es steht außer Frage, dass Sport verschiedene Bedürfnisse befriedigen kann und für manch eine*n ganz wesentlicher Bestandteil im Alltag ist. Sport (im ausgewogenen Maße betrieben) dient dem Bedürfnis nach körperlicher Gesundheit ebenso wie dem nach sozialer Zugehörigkeit. Durch Vereinsmitgliedschaft, der Monatskarte im Fitnessstudio und/oder Teamsport fühlen Menschen sich im besten Falle einer Gruppe zugehörig.
Richtet sich der Blick auf das optische Narrativ der Gesellschaft, liegt die Vermutung nahe, dass einige Menschen Zugehörigkeit wie auch Anerkennung über eine bestimmte Körperform generieren. So hohe Wellen die Body Positivity Bewegung auch geschlagen haben mag, unsere Gesellschaft eifert nach wie vor einem ganz bestimmten Schönheitsideal nach und wertet Körper darin auf und ab.
Sport kann ebenfalls das Bedürfnis nach Auslastung und Grenzerfahrungen befriedigen, nach Abschalten und innerlichem Ausgleich. Damit wird er auch allzu oft beworben. Und sicherlich kann Sport all das leisten.
Andere Bedürfnisse
Demgegenüber stehen allerdings ein Haufen anderer Bedürfnisse, die ebenfalls nach Befriedigung schreien.
In Anbetracht des Bedürfnisses nach einer stabilen physischen wie psychischen Gesundheit verbringen viele Menschen circa 5-7 Stunden mit Schlaf. Eine ähnliche Stundenzahl verbringen die meisten Menschen mit irgendeiner Art von Lohnarbeit. In der Regel geht es dabei darum, das Bedürfnis nach (finanzieller) Sicherheit zu befriedigen; im besten Falle sogar nach Kontakt und Anerkennung. Vielleicht im noch besseren Falle geht es sogar darum, das Bedürfnis nach Selbstverwirklichung zu erfüllen.
Der Faktor Zeit
Dazwischen, davor, danach und auch währenddessen will der Haushalt geführt, der Einkauf erledigt, das Essen gekocht und der Müll rausgebracht werden. Zeit für Freund*innen, Zeit für Familie, Zeit für Arzttermine. In dieser Gemengelage stellt sich ganz grundsätzlich die Frage: Was tue und was suche ich im Sport? Ist Sport Selfcare oder Zwang, etwas zu sein oder darzustellen? Steht Sport in Konkurrenz zu anderen Bedürfnissen? Und wenn ja, wie gesund ist es, Sport zu treiben und Zeit für Sport aufzubringen, wenn andere grundlegendere Bedürfnisse dabei hinten rüber fallen? Ich selbst bin als Frau sozialisiert und verstehe mich als solche. Ich bin Mutter, habe einen Hund, eine Beziehung, Freund*innen und einen pickepacke vollen Alltag. Ich verbringe zeitweise gefühlt 48 Stunden von den 24 Stunden, die mein Tag hat, damit, Fürsorgearbeit für irgendwen zu leisten. Teils weil ich es will, teils weil ich so sozialisiert bin. Ich jongliere mit den Bedürfnissen von mehreren Wesen gleichzeitig und stehe oft genug mit meinen eigenen hinten an. Oft stelle ich mich selbst hinten an. Wenn ich mal Ruhe und Zeit habe, dann komme ich zumindest derzeit nicht auf den Gedanken meine Laufschuhe anzuziehen oder die Yogamatte auszurollen. Auch wenn ich weiß, dass mir das gut täte.
Was sonst noch gut tut
Viele andere Dinge tun mir auch gut und sind in diesen Momenten oft wichtiger. Meine Bucket-List für Momente, in denen ich mich um niemand anderen caren muss, ist lang. Darin liest sich vor allem das Bedürfnis nach Ruhe, nach Schlaf, nach Entspannung. Sport als Selbstfürsorge steht da weiter unten. In allererster Linie starre ich tatsächlich in der Regel eine halbe Stunde in die Luft, wenn ich Zeit für mich habe, weil ich so erschlagen bin.
Mir ist bewusst, dass ich meinen Zeitplan noch straffer organisieren könnte und dann vielleicht mehr Bedürfnisse in der gleichen Zeit befriedigt bekomme. Aber so funktioniert in meinen Augen Leben nicht und Bedürfnisse auch nicht. Mir ist bewusst, dass ich ein Problem damit habe, gut auf mich und meine Grenzen aufzupassen und mir Räume für mich zu nehmen. Mir ist bewusst, dass ich damit nicht alleine bin. Je nachdem also wie gut Menschen gelernt haben, ihre Bedürfnisse wahrzunehmen und sich für sie einzusetzen, variiert die Zeit, die sie sich für eben diese einräumen (können). Wir alle stehen an unterschiedlichen Punkten, wenn es um unsere Bedürfnisse geht. Sowohl aus dem psychologischen Aspekt, dass wir unterschiedlich sozialisiert sind und unterschiedlich gut gelernt haben, sie zu erkennen und zu achten.
Sport als Privileg
Aber auch aus einem ökonomischen Blickpunkt.
Wer näher an der Existenznot steht, kommt weniger häufig auf den Gedanken, sich Zeit für Sport einzuräumen. Es gibt Menschen, die in schlecht bezahlten Jobs viel Zeit ihres Lebens mit Arbeit verbringen, um ihren Lebensunterhalt zusammen zu kratzen. Und es gibt Menschen, die in sehr gut bezahlten Jobs wenig Zeit mit Arbeit verbringen und einen guten Lebensstandard führen können. Auch das hängt mit Privilegien zusammen, wie Bildung, Herkunft und Geschlecht. Je nachdem wie viel Zeit und Kraft also in die (unter anderem finanzielle) Erhaltung vom eigenen Leben fließt, variiert die Zeit für alles andere. Eben auch für Sport. Und deshalb ist Sport ein Privileg, dass als solches anerkannt werden muss. Bei der Frage, wer Zeit für Sport hat, müssen soziale Ungleichheiten viel mehr ins Blickfeld gerückt und mitgedacht werden.
Wer sich also entscheidet, zu schlafen, auf dem Handy zu daddeln oder in die Luft zu starren, ist vielleicht gar nicht faul, demotiviert oder schlecht organisiert. Vielleicht ist da jemand gerade genauso gut dabei, seine Bedürfnisse zu achten und auf sie einzugehen, wie der Mensch, der sich gerade Zeit für Sport einräumt.
Janina Bohnacker
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