Queere alte Menschen gehören zu einer Generation, die eine prägende Geschichte in sich trägt. Sie sind meistens ohne Rollenvorbilder und mit der strafrechtlichen Verfolgung homosexueller Handlungen nach §174 StGB (bis 1994) aufgewachsen und alt geworden. Es ist eine Generation, die gelernt hat ihre sexuelle oder geschlechtliche Identität gut zu verstecken, um sich so zu schützen. Mit der sexuellen Liberalisierung haben viele zwar gelernt ihre Sexualität auszuleben, ihre Geschichte und Erfahrungen tragen sie aber weiterhin in sich. In der ambulanten Pflege geht man zu pflegebedürftigen Menschen nach Hause, um sie dort zu unterstützen und zu pflegen. Pflegebedürftigkeit bedeutet Hilfebedürftigkeit und ist so immer auch ein Ausgeliefertsein. Diese Hilflosigkeit macht oft auch vorsichtiger und macht es umso wichtiger, sensibel auf die pflegebedürftigen Menschen einzugehen. Über die Pflegebedürftigkeit an sich hinaus zu schauen, welche Themen wichtig sind und besprochen werden müssen, um Vertrauen zu schaffen.
Queersensibler Pflegedienst
vielfältig. GmbH – das sind Judith und Hannah Burgmeier. Und vielfältig ist ihr Konzept des ersten ambulanten Pflegedienstes mit dem Schwerpunkt auf Sexualität und geschlechtliche Vielfalt in Deutschland. Vor zweieinhalb Jahren sind die beiden nach Bremen gezogen. Judith ist gelernte Altenpflegerin und hat Pflege- und Gesundheitswissenschaften, sowie Pflege- und Gesundheitsmanagement studiert. Die letzten zweieinhalb war sie Geschäftsführerin beim Gesundheitswirtschaft Nordwest e.V.. Hannah hat Gesundheits- und Kinderkrankenpflegerin gelernt und schließlich Gesundheit- und Pflegepädagogik studiert. Erst vor kurzem hat sie auch ihren Master in Sexualwissenschaft abgeschlossen und arbeitet derzeit parallel als Gesundheits- und Sexualpädagogin in der freien Kinder- und Jugendhilfe.
Beide sind absolute Überzeugungstäterinnen. Das wird besonders bei unserem Gespräch deutlich. Sie sind selbst in der Bremer queeren Community aktiv und haben so auch festgestellt, dass ein queeres Angebot für pflegebedürftige Menschen fehlt. So kam ihre Idee für den ambulanten Pflegedienst. Ihr Ziel: Sichtbarkeit schaffen für queere alternde Menschen und Sexualität in der Pflege und im Alltag generell enttabuisieren und besprechbar machen. Ganz egal welche Sexualität oder geschlechtliche Identität sie haben. Judith und Hannah wollen einen Raum für Menschen mit Pflegebedarf schaffen, der sie trotz Pflegebedürftigkeit weiterhin als sexuelle Wesen ansieht und sie darin unterstützen, diese je nach den individuellen Bedürfnissen zu besprechen und auszuleben.
Sexualität in der Pflegebedürftigkeit besprechbar machen
„Alle denken immer, wir sind so aufgeklärt, tolerant und offen.“, sagt Hannah. „Das Thema Sexualität wird dann aber doch nicht besprochen.“ Besonders die Sexualität von zum Beispiel alternden Menschen oder Menschen mit Behinderung ist eher ein Tabuthema. Doch Menschen hören nicht aufeinmal auf sexuelle Wesen zu sein. Das sexuelle Bedürfnis muss als Grundbedürfnis, auch in der Pflege, verstanden werden.
„ Wir sprechen täglich in der Pflegepraxis über Themen wie Ausscheidung, warum macht uns das Thema Sexualität dann soviel Angst?“, fragt sich Hannah im selben Zug.
In der Pflege gibt es mehrere Punkte, um den Hilfebedarf eines Menschen zu erfassen und davon ausgehend eine Planung der Pflege zu erstellen. Es sind Punkte wie „sich bewegen können“, „essen und trinken können“ oder „ausscheiden können“. Wie selbstverständlich werden diese Punkte nach und nach durchgegangen und besprochen. Ausgelassen und belächelt wird dabei immer wieder ein ganz bestimmter Punkt: „Sich als Mann oder Frau fühlen und so verhalten können“. Die Formulierung dieses Aspekts ist sehr veraltet und beschreibt eine sehr heteronormative Sicht und sollte in seiner Ausführung viel komplexer betrachtet werden. Hierunter fällt unter anderem auch, ob sich die pflegebedürftige Person in ihrer Geschlechtsidentität sowie Sexualität wohl fühlt und sich entsprechend verhalten kann.
Sei es aus Scham oder dem fehlenden Wissen über die Komplexität dieses Themas. Denn es gehört schon längst mehr dazu, als nur zu beurteilen, ob die Menschen nach unserer objektiven Beurteilung in bestimmte Geschlechterrollen eingeordnet werden können. Hannah und Judith möchten zur Aufnahme der Pflegebedürftigen eine sexualpädagogische Anamnese durchführen. Die Anamnese ist ein systematisches Verfahren, im Rahmen eines Gespräches, zum Erfassen des Gesundheitszustandes eines Menschen, dessen Krankheitsgeschichte und Faktoren, die auf die Krankheitsgeschichte einwirken. Die Anamnese ist immer ein Teil der Aufnahme. Wie genau die Anamnese aussehen soll, haben sie noch nicht im Detail festgelegt. Das wollen sie gemeinsam mit dem neuen Team und den Pflegeempfänger*innen herausfinden. Klar ist aber, dass sexuelle Orientierung, Geschlechtsidentität und Sexualität im Allgemeinen in all seinen Facetten hier besprochen werden kann.
Beratungen für Menschen mit Pflegebedarf und deren Bezugssystem
Bei dem ambulanten Pflegedienst soll es aber nicht bleiben. Hannah und Judith wollen darüber hinaus auch Beratungen für das pflegende Bezugssystem anbieten. Paar- Beziehungs- und Sexualberatungen werden hier im Fokus stehen. Denn Pflegebedürftigkeit verändert die Paardynamik meist unumgänglich. Ob positiv oder negativ, man muss sich neu einspielen und lernen, unter neuen Anforderungen zu funktionieren und zu harmonieren. Die pflegenden Partner*innen fallen oft hintenüber. Ein Bewusstsein für die Veränderung der Beziehung zu schaffen und damit einen Raum, in dem es gewünscht ist, über Ängste und Unsicherheiten zu sprechen, ist so wichtig.
Auch für pflegende Angehörige soll hier ein Gesprächsraum im Rahmen von Einzelberatungen gestaltet werden für Fragen rund um Sexualität, ohne verurteilt zu werden. Wie lebt man zum Beispiel seine Sexualität aus, wenn man seine pflegebedürftige Mutter zuhause hat? Wie gehe ich damit um, wenn mein Partner oder meine Partnerin Demenz hat und sich in der Pflegeeinrichtung neu verliebt? Kann ich ausgehen und jemanden kennenlernen, trotz meines hohen Verantwortungsgefühls? Oder für Pflegebedürftige selbst: Welche Wege gibt es, um mir zum Beispiel als Mensch mit körperlicher Behinderung den Wunsch nach selbstbestimmter Sexualität zu erfüllen?
Schulungen
Der dritte Zweig soll eine Akademie werden, die im Rahmen von Schulungen, Fortbildungen und Workshops Menschen und Einrichtungen im Gesundheitswesen zu Sexualität, geschlechtlicher Vielfalt und dem Bedarf von Menschen abseits der Heteronormativität aufklärt und schult. Auch hier geht es wieder darum, ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass Menschen auch in ihrer Pflegebedürftigkeit weiterhin das Bedürfnis nach sexueller Selbstbestimmung haben.
Finanzierung
In erster Linie wird auch vielfältig. ein Pflegedienst sein, welcher normale pflegerische Tätigkeiten bei den Menschen zuhause ausführt. Diese lassen sich regulär durch die Kranken- und Pflegekassen abrechnen. Die Beratungen allerdings sind private Leistungen, die sich nicht mit der Krankenkasse verrechnen lassen. Judith und Hannah sind sich bewusst darüber, dass so auch Kund*innen ausgeschlossen werden. Ihr Ziel ist daher ein Solidarprinzip, um so vielen Menschen wie möglich die Beratungsleistung zur Verfügung stellen zu können. Auch dieses wird noch ausgearbeitet.
Zum 1. März 2024 wollen Judith und Hannah Pflegepersonal einstellen. Dann wollen sie sich und ihrem neuen Team zwei Monate geben, um auf Grundlage der Schwerpunkte gemeinsam Grundfragen zu klären, Umsetzungen der Ideen zu entwickeln und als Team zusammenzuwachsen. Voraussichtlich im Mai ist geplant, in die ersten Versorgungen zu gehen. Auch Judith und Hannah arbeiten zu Beginn direkt in der Versorgung mit, auch um zu sehen, wie ihre Konzepte umsetzbar sind. Da sie sich noch in der Gründung befinden, freuen sich Hannah und Judith über Pflegepersonal, das Lust hat, gemeinsam Ideen umzusetzen, zu wachsen und Pflege mit neuen Ansätzen professionell zu gestalten. Falls ihr euch davon angesprochen fühlt und eine Pflegeausbildung habt, meldet euch gerne per Mail oder via Instagram bei den beiden.
Viele Ideen müssen letztendlich in der Praxis ausgetestet werden und mit der Zeit reifen. Eins ist aber jetzt schon sicher: Hannah und Judith sind mit vollem Engagement und Tatendrang dabei und stehen absolut hinter ihrer Idee.
Lena Lehmphul
Instagram: @vielfaeltig_bremen
E-Mail: vielfaeltig@outlook.de
Website (noch im Aufbau): www.vielfaeltig-bremen.de
Hannah und Judith beim Pflegepodcast „Passierte Kost“ – hört gerne rein
Schreibe einen Kommentar