Das Wissen über Autismus in unserer Gesellschaft ist oft begrenzt von Klischees und Stereotypen. Das ist auch nicht verwunderlich. Über Autismus wird, wie über so vieles was aus der Norm fällt, nicht gesprochen. Und wenn man aus Interesse dann doch mal den Schritt zur Recherche ins Internet wagt, kommen oft veraltete deutsche Quellen, die längst überholt sind. Englische Quellen liefern hier etwas zuverlässigere Informationen.
Autismus ist keine Erkrankung, sondern ein neurodivergenter Zustand. Neurodiversität beschreibt die Vielfalt neurobiologischer Unterschiede im Gehirn einiger Menschen. Sie bringt zum Ausdruck, dass es sich z.B. bei Autismus oder auch ADHS nicht um Krankheiten handelt. Es ist einfach so, dass sich das Gehirn neurodivergenter Menschen anders entwickelt als das von neurotypischen Menschen.
Die Weltgesundheitsorganisation pathologisiert ein Phänomen und es wird von niemandem hinterfragt. Ich möchte an dieser Stelle keine Vergleiche ziehen. Zur Einordnung möchte ich aber einbringen, dass Homosexualität bis 1990 durch die WHO als „sexuelle Störung“ gewertet wurde. Nur weil es eine allgemein gültige Richtlinie gibt, bedeutet das nicht, dass wir diese nicht auch immer wieder mal hinterfragen sollten.
Warum mehr Autisten als Autistinnen diagnostiziert werden
Noch immer werden Autisten viermal häufiger diagnostiziert als Autistinnen. Woran kann das liegen? Denken wir an Autismus, kommen uns bestimmte Klischees in den Sinn. Viele Autist*innen halten von klein auf keinen Augenkontakt, da es ihnen unangenehm ist. Auch ihre soziale Interaktion unterschiedet sich von der neurotypischer Menschen. Ein weit verbreitetes Merkmal, oftmals aber eben auch nur Klischee, sind außerdem besondere Interessen, die einen großen Teil des Lebens einnehmen. Auch die Sinneswahrnehmung und -verarbeitung der meisten Autist*innen unterscheidet sich von der neurotypischer Menschen. Autistinnen haben oft noch andere Merkmale, die allerdings nicht sofort als Autismus ersichtlich sind.
Die Kommunikation zwischen neurotypischen und neurodivergenten Menschen ist oft geprägt durch tiefe Missverständnisse, da sich deren Voraussetzungen, die Wahrnehmung und das Verstehen stark unterschiedet. Häufig folgt daraus auch die Unterstellung, Autist*innen seien gefühlskalt. Dies ist allerdings ein weit verbreiteter Irrglaube. Denn auch hier unterschiedet sich lediglich das Ausdrücken der Gefühle ins Außen. Auch Hochsensibilität kann ein Merkmal von Autismus sein. Da Diagnoseverfahren aber überwiegend für Jungs entwickelt wurden, werden Autistinnen oft erst spät oder gar nicht diagnostiziert.
Ich treffe mich an einem frühlingshaften Dienstagnachmittag mit Frida (Name auf Wunsch geändert). Frida ist 55 Jahre alt. Sie erlebt jeden Tag, wie es ist, als neurodivergenter Mensch in einer Welt zu leben, die von neurotypischen Menschen für neurotypische Menschen gemacht wird. Erst seit zwei Jahren hat Frida die offizielle Diagnose. Ihr Leben lang hat sie Strategien entwickelt, um ihr Anderssein zu verdecken. Um nicht aufzufallen und ja kein Ärger zu provozieren. „Masking“ ist ein Phänomen, das viele Autistinnen früh perfektionieren. Ich spreche an dieser Stelle absichtlich nur von Autistinnen, aber auch Autisten bedienen sich an Masking-Strategien. Mädchen lernen von klein auf, sich der ihnen aufgezwungenen Geschlechterrolle und den damit verbundenen Erwartungen anzupassen. Von ihnen wird erwartet, dass sie schon früh sehr gefühlvoll sind und eine höhere emotionale Intelligenz haben als Jungs im selben Alter. Kein Wunder also, dass besonders Autistinnen die Anpassungsstrategien oft meisterhaft beherrschen.
Was genau ist Masking?
Masking („Maskierung“/“sich maskieren“) ist eine Strategie, mit der Autist*innen ihr ursprüngliches Verhalten anpassen, um nicht aufzufallen. Strategien für’s Masking können das Abschauen von Gestik und Mimik neurotypischer Menschen sein oder auch das Auswendiglernen von Sätzen für Small-Talk-Gespräche. Masking ist ein Weg für Autist*innen sich an die Norm-Gesellschaft anzupassen. Das klingt doch eigentlich erstmal ganz nett. Lernen sich anzupassen und sich so zu integrieren. Doch so einfach ist es nicht. Denn wie schon zu Anfang erwähnt: Autismus ist ein lebenslanger neurodivergenter Zustand. Sich also an die Norm-Gesellschaft anzupassen bedeutet ein lebenslanges Unterdrücken eines wesentlichen Bestandteils seiner Selbst. Dieses Unterdrücken kann somit auch schwerwiegende psychische und physische Folgen haben. Frida erzählt mir, dass sie zwei, auf den Autismus zurückzuführende, Burn-Outs hatte und auch immer wieder depressive Episoden erlebt hat.
Masking ist also vielleicht eine schöne Illusion, aber die Lösung sollte nicht sein, dass sich Menschen an die Norm anpassen. Sondern, dass die Norm diverser wird.
Wir könnten uns hier an Kindern ein Beispiel nehmen. Sie akzeptieren „Anders sein“ oft so viel leichter als Erwachsene, da sie kein bestimmtes Verhalten voraussetzen. Doch wir zwängen Kindern oft schon früh unsere eingerosteten Verhaltensweisen auf, die geprägt von Klischees sind. Und leben ihnen Ängste vor Menschen vor, die nicht der festgelegten Norm entsprechen.
Das Asperger-Syndrom
Die WHO hat zur differenzierten Diagnosestellung unter F 84 die Autismus-Spektrum-Störung noch einmal in drei Unterdiagnosen differenziert. Der „Frühkindliche Autismus“, den „atypischen Autismus“ und das „Asperger-Syndrom“.
Das „Asperger Syndrom“ ist die am häufigsten gestellte Diagnose. Frida erzählt mir, dass sie die gleiche Diagnose erhalten hat, den Begriff aber nicht verwendet. Hans Asperger ist 1906 geboren und war ein österreichischer Kinderarzt und Heilpädagoge. Viele der Akten aus seiner Abteilung galten jahrelang als verschollen. Sie waren aber nur verstaut im Wiener Stadt- und Landesarchiv. Aus ihnen geht hervor, dass Asperger maßgeblich beteiligt war an der Kinder-Euthanasie des Nationalsozialismus. Zwar ist er nie der nationalsozialistischen Partei beigetreten, doch er legitimierte die Politik der „Rassenhygiene“ öffentlich. Erst in den 80er Jahren wurden Aspergers Autismus-Forschungen von Lorna Wing entdeckt, die einen Teil des Autismus-Spektrums daraufhin nach ihm benannte.
Wenn man also den Begriff Asperger benutzt, hält man so, wenn auch unbewusst, fest an den Werten eines Mannes, der Autist*innen als nicht wertig für die Gesellschaft betrachtete. Wenn man sich einmal einen Artikel über Hans Asperger und sein Schaffen durchgelesen hat, ist es doch erschreckend, dass sein Name noch immer in jeder Literatur zum Thema Autismus vorkommt und Ärzt*innen das „Asperger-Syndrom“ diagnostizieren. Die Unwissenheit darüber ist groß. Warum sollten wir auch etwas hinterfragen, dass sogar die Weltgesundheitsorganisation dick auf ihrer Seite stehen hat. Für Frida ist klar, dass Ärzte es vielleicht noch in ihre Diagnose schreiben müssen, sie sich aber niemals so nennen wird.
Interventionen
Wird Autismus früh diagnostiziert, können frühe Interventionen bei Bedarf sinnvoll sein, das meint auch Frida. So zum Beispiel, wenn Autist*innen verzögert sprechen lernen und dabei Unterstützung brauchen. Es werden allerdings auch noch viele Therapieformen angewandt, die sehr umstritten sind und auf jeden Fall kritisch hinterfragt werden sollten.
Veränderungen brauchen Zeit
Fakt ist, dass das Autismus-Spektrum nicht umsonst so heißt. Das Spektrum ist weit und so auch die Merkmale. Autismus ist genauso vielseitig und divers wie wir Alle. Wir sollten also anfangen, neurodivergenten Menschen aufmerksam zuzuhören. Anstatt aus Berührungsängsten mit dem Unbekannten wegzuschauen, sollten wir uns austauschen und mehr Sichtbarkeit schaffen. Das Ziel sollte nicht sein, dass sich neurodivergente Menschen an die Norm-Gesellschaft anpassen müssen. Sondern dass wir wegkommen von der Norm und Menschen darin unterstützen als sie selbst, ohne Nachteile, ein Teil dieser Gesellschaft zu sein. Frida meint, dass wir riesen Veränderungen nicht zu schnell erwarten können:
„Dinge rollen immer wieder über Stufen, rollen dann zurück und dann geht es doch wieder ein Stück weiter. Wir sehen wie viele andere Menschen, die sich von der Dominanzgesellschaft nur durch ein Merkmal unterscheiden, immer weiterkämpfen und es ist nicht ganz leicht, aber wir können immer hoffen, dass es auch hier Entwicklung gibt.“
Lena Lehmphul
Möchtet ihr euch noch mehr zu dem Thema informieren, schaut euch Texte und Videos von Betroffenen an. Es gibt einige gute TED Talks von Autistinnen, die ihre Erfahrungen schildern und so einen vielseitigen Blick auf das Autismus-Spektrum ermöglichen.
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