In ihrem Buch Feministische Psychiatrie Kritik wendet Peet Thesing sich der Problematik psychiatrischer Diagnosen, Maßnahmen und Einrichtungen zu. Patriarchale Machtstrukturen finden in diesem Kontext Beachtung, ebenso wie die erschreckende Geschichte der Psychiatrie. Thesing wirft im laufe der Lektüre viele Fragen auf: Wie weit geht das Recht über den eigenen Körper? Welche alternativen Behandlungsmöglichkeiten gibt es?
Und auch wenn längst nicht alles beantwortet wird, so regt das Buch auf jeden Fall zum Nachdenken und Reflektieren an.
Die Psychiatrie fungiert als Mittel, um all diejenigen, die sich in diesem System nicht bewegen können oder wollen, still zu halten – indem sie für psychisch krank erklärt werden. Damit werden alle Probleme zum Problem des Einzelnen.
~ Peet Thesing
Strukturelles oder persönliches Problem?
Einen der größten Kritikpunkte an dem Feld der Psychiatrie sieht Thesing darin, Probleme, welche gesellschaftlichen Ursprungs sind, zu individualisieren. Somit machen angeblich psychiatrische Maßnahmen die Verknüpfung Betroffener und strukturellen Wandel unmöglich.
Tatsächlich scheint der therapeutische Ansatz beim Individuum in Bezug auf Probleme, die keine persönlichen, sondern strukturelle Hintergründe haben, zweifelhaft.
Burn Out-Behandlung in der Psychiatrie
Leidet beispielsweise jemand an Burn Out, so begibt er*sie sich in therapeutische Behandlung. Es gibt eine Reha, Selbstfürsorge-Aufgaben wie Spaziergänge oder Entspannungsbäder. Danach muss er*sie zurück in das kapitalistische System der Lohnarbeit mit einer 40 Stunden Woche und Unterbezahlung. Anstatt zu Ausbruch und Veränderung zu führen, würde Psychotherapie laut Thesing viel eher zum Gegenteil führen. Individuen würden wieder dem maroden System angepasst und „repariert“, anstatt das System zu reparieren.
„Weiterhin zielen diese Selbstfürsorgetechniken nicht auf Wut, Widerstand und Zerstörung der Technik ab, sondern auf Beruhigung und Akzeptanz.“
Borderline und Schizophrenie
Des Weiteren kritisiert Thesing die Auswirkungen, welche die Diganosen haben können. Als Beispiel hierfür nennt sie die Borderline-Persönlichkeitsstörung. Bei dieser kommt es übermäßig oft zu Therapie-Abbrüchen seitens der Patient*innen. Daraufhin stellen sich die Therapeut*innen in ihren Fertigkeiten jedoch nicht selbst auf den Prüfstand. Stattdessen pathologisieren sie den Therapieabbruch einfach als weiteres Diagnosemerkmal der Borderline-Störung. Die Therapeut*innen selbst bleiben somit unantastbar.
Auch dass Klient*innen bei Diagnosen wie Schizophrenie eine Entwertung der eigenen Wahrnehmung erfahren, ist hochproblematisch. Gegen solche Mutmaßungen können sie sich nicht wehren. Jeden Widerspruch pathologisieren Therapeut*innen erneut als falsche Wahrnehmung. Ein Entkommen aus der Entmündigung ist nahezu unmöglich.
Flints* in der Psychiatrie
Für feministische und genderbezogene Themen stellt die Psychiatrie eine ganz eigene Herausforderung dar. So können alle Menschen mit von der gesellschaftlichen Norm abweichender Sexualität und/oder Geschlecht kaum eine*n hilfreiche*n Therapeut*in aufsuchen. Ganz egal, was das ursprüngliche Anliegen der Hilfesuchenden ist, oft wird in der Therapie die Identität dieser Menschen in Frage gestellt und therapeutisch untersucht, obgleich die Betroffenen das ablehnen.
So ist beispielsweise in therapeutischen Kreisen tatsächlich die Annahme verbreitet, Homosexualität bei Mädchen und Frauen sei eine Abwehrreaktion auf erlittene Übergriffe durch cis Männer.
„Für trans Personen kann die Suche nach Therapeut_innen zum Spießrutenlauf werden, insbesondere bis eine gefunden ist, für die trans ein Aspekt des Selbst ist und nicht der alleinige Fokus therapeutischer Intervention.“
„My Body – My Choice“ in der Psychiatrie?
Auch die Maßnahmen, mit welchen die Psychiatrie als Feld arbeitet, sind umstritten bis klar grenzverletzend. Neben Zwangsmedikamentation und Zwangsbehandlungen kommt es zu Fixierungen und Verletzungen des Briefgeheimnisses. Ist die Würde des Menschen also nur so lange unantastbar, bis er*sie in der Psychiatrie landet? Thesing erklärt die psychiatrische Unterscheidung in gesundes und krankes Verhalten als unzureichend und zweifelhaft. Sie sei viel zu sehr geprägt von gesellschaftlichen, kulturellen und historischen Aspekten, um eine totale Gültigkeit zu haben. Das ist wahr, doch ob aufgrund dessen alle Formen selbstschädigenden Verhaltens therapeutisch akzeptiert und toleriert werden können, wie Thesing es fordert, ist streitbar.
„Selbstverletzung ergibt Sinn. Selbstverletzung funktioniert. Sie ist Interaktion mit sich selbst und der Umwelt. Sie macht den verbotenen Schmerz sichtbar.“
Auswege
Als Alternativen zu psychiatrischen Machtstrukturen nennt Thesing zum Ende des Buches hin einige Ideen. Betroffenenkontrollierte Projekte, um den (ehemaligen) Klient*innen eine Stimme zu geben, sind eine davon. Eine weitere ist die Abschaffung des Zwangssystems in der Psychiatrie sowie das Ausgestalten von alternativen Rückzugsorten für Hilfesuchende, beispielsweise das Weglaufhaus in Berlin.
Es gibt also andere Handlungsmöglichkeiten als Zwang, macht Thesing deutlich. Die Psychiatrie sollte nicht die einzige Hilfsmöglichkeit bleiben. Bis es jedoch reelle, erreichbare Alternativen für alle Betroffenen gibt, ist es noch ein weiter Weg, der einiges an finanziellen Mitteln in Anspruch nehmen und gesellschaftlichen Umbruch benötigen wird.
Peet Thesing
Feministische Psychiatrie Kritik
unrast Verlag
Softcover
ISBN: 978-3-89771-140-2
Franka Billen
thomas einzenberger meint
die psychiatrie dient dazu den status quo zu festigen, indem störende elemente aus der gesellschaft entfernt werden.man wird einfach für 10 jahre auf irgendeine oder mehrere drogen gesetzt, die die hirnchemie krass verändern oder auch zu schädigen vermögen, sodass man sie nicht mehr abzusetzen schafft.was auch frappiert, ist das unwissen der neurologen und psychiater zu den fragestellungen in ihrem eigenen gebiet.man begegnet in diesem sektor mehr lügen, die auf unwissen basieren, insofern kann man sagen die psychiatrie vermengt wissenschaft mit populärkultur, ist aber in der methodik schlampig und unwissenschaftlich.
körperlich gesunde menschen werden auf starke überhöhte dosen von pharmaka und drogen gesetzt, und zu kranken erklärt.alle ihre probleme rechtlicher ethischer moralischer oder sozialer natur werden zu ihrer eigenen sache und zum eigenen problem erklärt,einer angeblichen geisteskrankheit.
Amanda meint
JJ Cale – Call the Doctor
… eins meiner liebsten Lieder. Es reflektiert meine Erfahrungen mit Ärzt*Innen und mit der Psychiatrie.
Sicherlich, es gibt gesellschaftliche Probleme, auf welche die Menschen heute, und seit jeher, mit der Ausprägung von Krankheiten reagieren. Natürlich ist es nicht angemessen, die Fehler im Individuum zu suchen, wo doch eigentlich eine Transformation der ganzen Gesellschaft und ihrer Strukturen angebrachter wäre.
Ich verteidige dennoch den Ansatz beim Individuum. Denn definitiv einfacher ist es, bei ihm anzusetzen. Der Leidensdruck muss behandelt werden. Schnell! Außerdem verändern sich Gesellschaften heute so schnell wie nie zuvor, u.a. durch Telekommunikation, Internet, einen größer werdenden Dienstleistungssektor.
Diese Prozesse und Veränderungen sind nicht zeitnah von Einzelpersonen oder Eliten zu beeinflussen – geschweige denn von Regierungen. … klar – wir leisten mit feministischer Aufklärungsarbeit einen Beitrag zum Wandel, aber die gewünschte Entwicklung ist niemals von heute auf morgen zu erreichen. Und von heute auf morgen (!) sollen doch die Symptome einer Krankheit gelindert werden. Oder etwa nicht?
Hinzu kommt: Die Klinik ist für viele „Krankheiten“ ganz einfach die richtige und vielleicht sogar die einzige Adresse.
Und ich spreche aus Erfahrung: Vor einigen Jahren litt ich unter massivem Verfolgungswahn. Das Beste, was mir damals passieren konnte, war die Klinik und der Kontakt zum psychiatrischen Fachpersonal. Mir wurde in diesem Kontext nie gesagt, dass meine Wahrnehmung „falsch“ sei. Vielmehr haben mich Psychotherapeut*Inenn und Ärzt*Innen darauf hingewiesen, dass ich Realität auf eine andere Art wahrnehme und andere, vielleicht gar schnellere und daher zum Teil auch fehlerhafte Verknüpfungen vornehme. Zu einer Psychose gehört eine ganze Menge Phantasie.
In meinem Fall wurde dies anerkannt. Ich hatte immer das Gefühl, mit meinem Leiden und der Qual, welche die Krankheit ausgelöst hatte, ernst genommen zu werden. Ich habe Hilfe angenommen und kann mit Stolz mitteilen, heute genesen zu sein.
Meine Sicht also:
Die Psychiatrie ist im 21. Jahrhundert angekommen – sie ist nicht mehr die Klinik, die Foucault noch beschrieb!