„It is a powerful lie to equate thinness with self-worth“ (Roxane Gay, Hunger: A Memoir of my body)
„Du vernachlässigst deinen Körper“, „Das ist doch nicht mehr gesund“, „Du bist selbst daran Schuld“. Solche und noch viel mehr schädliche und diskriminierende Kommentare müssen mehrgewichtige Menschen täglich ertragen. Gewichtsdiskriminierung gehört zum Leben von Personen, die mit ihren Körperformen nicht der akzeptierten Norm entsprechen. Manche haben keine Hintern in der Hose, andere zu viel. Obwohl der eigene Körper kein Anliegen von jemand anderem außer von Dir selbst ist, ist es gesellschaftlich akzeptiert, über andere Körperformen zu urteilen, sie zu bewerten und zu kritisieren.
Gewichtsdiskriminierung ist in unserer Gesellschaft völlig normalisiert und ein fester Bestandteil des alltäglichen Lebens. Die gesellschaftliche Stigmatisierung von Körpern war noch nie so hoch wie jetzt und der Druck schlank, aber trotzdem kurvig zu sein ist enorm. Die vermeintlich „perfekten Körper“, wie sie auf Social Media suggeriert werden, prägen nachhaltig das Verständnis von Schönheit. Es gilt das Missverständnis, dass, solange du diese Ideale nicht verkörperst, dein Körper nicht liebenswert und wertlos sei. Wie soll man seinen eigenen Körper lieben, wenn einem täglich eingetrichtert wird, dass der eigene Körper abstoßend sei? Zuerst einmal muss geklärt werden, was Gewichtsdiskriminierung überhaupt ist.
Was ist Gewichtsdiskriminierung?
„Diskriminiert und stigmatisiert werden in westlichen Gesellschaften vor allem die Menschen, deren Gewicht nach oben von dem abweicht, was als normal definiert wurde. Gewichtsdiskriminierung dient – wie andere Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit – nicht zuletzt dazu, sich durch Abwertung anderer im Konkurrenzkampf einen Vorteil zu verschaffen und die gesellschaftlichen Ausschlussmechanismen, die diesen Vorteil erst ermöglichen, als gerechtfertigt und „verdient“ erscheinen zu lassen.“ (Gewichtsdiskriminierung – Gesellschaft gegen Gewichtsdiskriminierung)
Drei Viertel der Deutschen haben stigmatisierende Vorurteile gegenüber mehrgewichtigen Menschen. Das sind mehr als 60 Millionen Menschen, die teilweise explizit Vorurteile verbreiten oder diesen nicht widersprechen. 82 Prozent der deutschen Bevölkerung denken mehrgewichtig zu sein sei eine „lifestyle-choice“. In Deutschland sind zwei Drittel der Männer und die Hälfte der Frauen mehrgewichtig. Extrem viele Menschen sind also täglich Diskriminierungen aufgrund ihres Gewichts ausgesetzt. Dabei ist selbstverständlich zu beachten, dass nicht nur mehrgewichtige Menschen aufgrund ihres Gewichtes diskriminiert werden. Auch dünne Menschen erfahren Diskriminierung. Jede Form von Gewichtsdiskriminierung ist falsch. Das abzusprechen wäre anmaßend. Der Fokus dieses Artikels liegt allerdings auf der systematischen Diskriminierung mehrgewichtiger Personen.
Der längst überholte BMI
Ein fester Bestandteil der Gewichtsdiskriminierung ist der Body-Mass-Index (BMI), auf deutsch Körpermasseindex. Dieser verdeutlicht noch einmal wie normalisiert Gewichtsdiskriminierung überhaupt ist. Der BMI ist ein Richtwert, der das Verhältnis von Körpergewicht zu Körpergröße misst. Wie schon auffällt, etwas sehr Allgemeines und Oberflächiges. Jedoch ist der BMI im Gesundheitswesen und auch im Rest der Gesellschaft schon lange etabliert. Der BMI errechnet aus deinen persönlichen Angaben einen Wert und ordnet Menschen in Unter,- Normal- und Übergewicht ein. Der BMI-Wert ändert sich über die Jahre hinweg und wird immer weiter abgestuft. So lag der Wert des „Normalgewichts“ mal bei 27 und aktuell liegt der Index bei 25. Des Weiteren hat der BMI eine rassistische Vorlage, denn weiblich gelesene Persons of Colour haben tendenziell einen höheren BMI als weiße weiblich gelesene Personen. Dies liegt an unterschiedlichen Gründen, wie zum Beispiel der Genetik, unterschiedlicher Knochendichte oder höherem Maß an Muskulatur. Zusätzlich müsste der BMI auch den Zugang von armutsbetroffenen Personen zu gesunden Lebensmitteln betrachten.
Fakt ist; „die Verwendung eines einzigen BMI-Standards ist rassistisch“ (Sabrina Strings). So ist der BMI einfach kein „effektives Maß für individuelle Gesundheit“. Dabei gilt; „Den Körper von anderen Menschen zu kommentieren ist gewaltvoll“ (Maria Gonzalez Leal). Das Verteilen von Nummern, anhand welcher man eine „Wertigkeit“ zugeschrieben bekommt, ist altmodisch und muss an gesellschaftlicher und medizinischer Bedeutung verlieren.
Wie kommt es zu medizinischen Fehleinschätzungen oder sogar Fehldiagnosen?
„Dicksein wird in unserer Gesellschaft als Krankheit wahrgenommen“ (Friedrich Schorb)
Die Studie „Diskriminierungserfahrungen in Deutschland“ weist auf, dass mehrgewichtige Menschen vor allem im Gesundheitswesen unter Diskriminierung und Stigmatisierung leiden. Das Gesundheitswesen sollte sich darauf konzentrieren, den Menschen zu helfen und sie zu heilen, nicht Leid und Schaden durch Vorurteile hinzuzufügen. „Nimm am Besten ab“ sollte keine Aussage sein, die eine mehrgewichtige Person von ärztlichem Fachpersonal zu hören bekommt. Die Pathologisierung von hohem Gewicht muss aufhören. Die Pauschalaussage, dass mehrgewichtige Menschen ungesund leben, ist extrem schädlich und prägt die Denkweise unserer Gesellschaft permanent.
Um aber auf das Problem der Fehldiagnosen und fehlerhafte medizinische Behandlung zurückzukommen: Mehrgewichtige Menschen werden meist gar nicht erst in Studien integriert, sodass man die Forschungsergebnisse in der Regel nicht auf mehrgewichtige Patient*innen anwenden kann. So haben Studien gezeigt, dass Antibiotika-Behandlungen, aber auch Chemotherapie-Dosierungen zu niedrig ausfallen können. Oft sind Blutdruckmanschetten nicht dafür ausgelegt bei mehrgewichtigen Menschen den Blutdruck zu messen, liegen oft zu eng an und verfälschen somit das Ergebnis. Viele der körperlichen Symptome, wie ein zu hoher Cortisol-Spiegel, sind nicht zwangsläufig auf das Gewicht zurückzuführen, sondern resultieren oft aus dem gesellschaftlichen Druck und den damit einhergehenden konstanten Stressaussetzungen. Des Weiteren erzählen Betroffene, dass Ärzt*innen sie ungerne anfassen, was nicht nur ein perfides Zeichen der Missachtung gegenüber den Patient*innen ist, sondern auch dazu führt, dass mit mehrgewichtigen Menschen rücksichtsloser umgegangen wird. Diagnosen werden gestellt, ohne sich vorher ein ausreichendes Bild der Patient*innen geschaffen zu haben.
Es erscheint irrsinnig, darüber zu diskutieren, jedoch muss es gesagt werden: Mehrgewicht ist keine Einladung für diskriminierendes Verhalten. Sei es in der Arbeitswelt, in der Freizeit oder beim Ärzt*innenbesuch.
Toxische Schönheitsideale
Schönheitsideale, egal ob sie sich über lange Zeit hinweg manifestiert haben, MÜSSEN aktiv hinterfragt werden. Schönheitsideale schaden nicht nur mehrgewichtigen Menschen, indem sie als „faul“ und „ungesund“ abgewertet werden, sondern auch Trans*Personen, die sich dem Druck entgegensehen wie ein cis Mann oder eine cis Frau aussehen zu müssen, um als „Mann“ oder „Frau“ gelesen zu werden. People of Colour müssen möglichst „weiß“ aussehen, um von der Gesellschaft akzeptiert zu werden. Und so weiter… Schönheitsideale sind schädlich, denn wir sind alle individuell schön, unabhängig von unserer Ethnie, unserem Geschlecht, unserem Alter und unserer Sexualität. Es sollte egal sein, ob man ein Handicap hat oder mehrgewichtig ist. Wichtig ist, dass für ALLE gleichermaßen die bestmögliche gesundheitliche Versorgung resultiert. Wenn man von Schönheitsidealen und dem Hinterfragen dieser spricht, fällt nicht unerwartet auch der Begriff der Body Positivity: der Glaube, dass jedes Körperbild akzeptiert werden soll, egal ob es den Idealen entspricht oder nicht. Jedoch wirkt es viel mehr so, als würde man sich vormachen, dass „alles in Ordnung ist“, anstatt sich mit der Wurzel des Problems auseinanderzusetzen. So grundsätzlich richtig die Message der Initiative auch ist: Dass alle Körper schön sind, ähnelt eher einem Aufzwingen von Positivität, als einer Auseinandersetzung mit der Realität. Das Team Ultrahuman schreibt in seinem Artikel „Body Positivity vs. Body Neutrality“, dass wir anerkennen müssen, dass Unsicherheiten zum Leben dazugehören und dass man sich nicht ständig gut fühlen muss, um sich selbst zu akzeptieren. Dies entspricht nun mal nicht der Realität vieler Menschen. Und das ist komplett normal.
Da wo es bei der Body Positivity aufhört und an Relitätsakzeptanz fehlt, entsteht das Konzept der Body Neutrality. Hierbei geht es vielmehr um die Wertschätzung, was unser Körper alles leisten kann und weniger um das bloße Aussehen. Dein Körper und wie du dich in ihm fühlst ist kein Maß für Akzeptanz, sondern verdient Respekt und Anerkennung, egal wie er aussieht und dein Körpergefühl ist. Es ist komplett in Ordnung, wenn man sich nicht immer wohl in seinem Körper fühlt, wenn man seinen Körper mal nicht mag. TROTZDEM verdient jede Person Respekt. Es geht um eine Ablenkung von dem Konzept, dass deine innere Zufriedenheit ausschließlich mit dem Aussehen deines Körpers zu tun haben muss.
Obwohl ich in dem Artikel hauptsächlich über die Diskriminierung von mehrgewichtigen Personen informiert habe, heißt das nicht, dass nur mehrgewichtige Personen Diskriminierung erfahren. Alle Menschen insbesondere FLINTA* erfahren Diskriminierung auf jegliche Art und Weise. Gewichtsdiskriminierung, egal gegen welchen Körpertyp, ist Diskriminierung. In unserer Gesellschaft wird der weiblich gelesene Körper vermehrt objektiviert und sexualisiert, dennoch muss sich jede Person bewusst werden, dass der Körper nur einem selbst gehört und niemand das Recht hat deinen Körper zu kommentieren.
Die Autorin dieses Artikels hat nie Erfahrungen mit Gewichtsdiskriminierung machen müssen.
Lina
Sarah meint
Ein super klasse gehaltvoller Text mit einem sehr wichtigen Thema, dass schon seit Generationen Menschen beeinflusst. Die Entstigmatisierung ist der erste wichtige Schritt um mit überholten Idealen aufzuräumen, schließlich haben die Menschen, die Diskriminierung erfahren, nicht frei gewählt, dieses und jenes Aussehen zu haben, sondern sehen halt einfach so aus aus diversesten Gründen.
Vielen Dank für den Text über dieses wichtige Thema!