Der Begriff des „male gaze“ wurde 1975 von Laura Mulvey geprägt und ist Teil der feministischen Filmtheorie (vgl. Braidt 2016: 246). Gaze meint „anschauen“ oder auch „starren“. Die Theorie bezieht psychoanalytische Konzepte nach Freud mit ein: Der Zuschauer ist hier ein cis-männlicher heterosexueller, der durch die Identifikation mit dem Protagonisten und dem voyeuristischem Zuschauen der anderen eine visuelle Lust empfinde. Der cis- Frau im Film bleibt nur das passive Angeschautwerden. In diesem Artikel wird jetzt diese Theorie, die sich ursprünglich auf eine visuelle Ebene bezieht, auf eine sprachlich-musikalische bezogen. Welche Perspektive wird in Songtexten eingenommen? Bevor diese Frage beantwortet wird, geht es zuerst um den gayze und den queer gaze in der Literatur.
Der „gayze“ und der „queer gaze“
In seiner Masterarbeit von 2017 schreibt Omar Daou von dem männlichen „gayze“ (aus gay und gaze), d.h. von dem Blick eines homosexuellen Zuschauers. Er schreibt, dass in schwulen Filmen der gayze weniger festgelegt ist, als der male gaze. Der gayze wandele eher zwischen den Charakteren und es sei weniger klar, mit wem sich der Zuschauer identifizieren solle, wer voyeuristisch angeschaut werde und wer begehrt werde.
Über den queer gaze hat schon Jack Halberstam in seinem einflussreichen Werk Female Masculinities von 1998 geschrieben. Der queer gaze ist multidimensional und weniger auf das Geschlecht festgelegt. Der lesbian gaze, der auch in dem Zusammenhang zu nennen ist, ist gleichzeitig von und auf eine Frau gerichtet. Dadurch widerspricht er dem male gaze vollkommen (Berry 2016: 247). Insgesamt sind sowohl der queer und lesbian gaze, als auch der gayze nicht fest gelegt auf eine Perspektive.
Sowohl im schwulen gayze, im lesbian gaze als auch im queer gaze sind die Machtverhältnisse anders als im male gaze, da hier das hetero-binäre Geschlechtersystem in Frage gestellt wird.
Können Texte einer cis-weiblichen Interpretin aus einer „male gaze“-Perspektive geschrieben sein?
Ich würde diese Frage mit „ja“ beantworten. Denn der „male gaze“ kann auch von Frauen und FLINTA* internalisiert d.h. verinnerlicht werden, so dass sie sich selbst aus dieser cishetero-männlichen Perspektive betrachten (vgl. Trier-Bieniek 2015: 3). Ein Beispiel von Songtexten, der aus einer male gaze Perspektive geschrieben ist, ist „I kissed a girl“ aus dem Jahr 2008 von Katy Perry. Wer es nicht kennt: Das Lied beschreibt einen lesbischen Kuss. Im Text geht es darum, was andere, besonders der „boyfriend“, dazu zu sagen haben. Außerdem objektifiziert es die andere Person, um die es geht („You’re my experimental game“ – Du bist mein Experimentierspiel) und es mystifiziert „girls“ („Us girls, we are so magical”-Wir Mädchen sind so magisch). Noch zu erwähnen, wenn auch ziemlich eindeutig, ist es homophob, da es erwähnt wie „falsch“ es doch sei und „gute Mädchen“ so etwas nicht tun würden.
Ein Beispiel für den queer gaze in Songs
Ein Beispiel für den queer gaze in Songtexten zu finden, fiel mir gar nicht leicht. Denn viele Texte sind nicht eindeutig zu interpretieren. Ich habe mich dann schlussendlich für „ta reine“ (deine Königin) von der belgischen Sängerin Angèle entschieden. Es scheint in dem Text um eine versteckte Liebe zwischen dem lyrischen Ich und einer Frau zu gehen („Si seulement elle savait comment, comment tu l’envisageais, même si t’es une fille“-Wenn sie nur wüsste wie, wie du sie dir vorstellst, obwohl du ein Mädchen bist). Auch wenn hier eine heterosexuelle Norm thematisiert wird, ist die Perspektive trotzdem positiv dieser Liebe gegenüber eingestellt („Moi, je crois aux histoires auxquelles les autres ne croient pas encore“ – Ich glaube an Geschichten, an die andere noch nicht glauben).
Zwei Königinnen sind ungewöhnlich
Es geht in dem Song indirekt auch um Machtverhältnisse, da König und Königin sonst eine Einheit darstellen und Macht repräsentieren. Hier sollen es aber zwei Königinnen sein („Mais tu voudrais qu’elle soit ta reine ce soir- Même si deux reines, c’est pas trop accepté“- Du möchtest, dass sie deine Königin sei-Jedoch sind zwei Königinnen nicht sehr akzeptiert). Die Perspektive ist hier der Blick vom lyrischen Ich auf das Gegenüber. Das lyrische Ich ist hier in der Du-Form geschrieben. Das Gegenüber scheint nicht zu wissen, dass es angeschaut wird („Si seulement elle savait comment, comment tu l’imaginais, elle pourrait t’abîmer“- Wenn sie nur wüsste wie, wie du sie dir vorstellst, dann könnte sie dich verletzen). Würde das Gegenüber jedoch wissen, dass es anschaut wird, könnte es aktiv handeln und ist so nicht auf Passivität beschränkt, wie durch einen male gaze.
Vielleicht fallen unseren Leser*innen noch andere Beispiel für einen queer gaze in Songtexten ein. Dann schreibt diese gerne in die Kommentare.
Lewis
Verwendete Literatur:
Berry, Megan (2016): Gender identity, the queer gaze, and female singer-songwriters. In: The Cambridge Companion to the Singer-Songwriter. Cambridge University Press. 246-256. http://dx.doi.org/10.1017/cco9781316569207.023
Braidt, Andrea (2016) Feministische Filmtheorien. Vom Blickparadigma über Queer Theory zu kognitionswissenschaftlicher Wahrnehmungstheorie. In: Gaugele, Elke, Kastner, Jens (Hg.) Critical Studies. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-10412-2_14
Daou, Omar (2017): The Male Gayze: Queer Cinema and Psychoanalysis. University of Utrecht. http://dspace.library.uu.nl/handle/1874/353459
Trier-Bieniek, Adrienne M. (2015): Feminist Theory and Popculture. Rotterdam: SensePublishers.
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